Christmasland (German Edition)
und erzeugten ein kaum hörbares Surren.
»Bing«, sagte der Postbote. »Müsstest du nicht auf der Arbeit sein?«
»Nachtschicht«, sagte Bing.
»Steht ein Krieg bevor?«, fragte der Postbote und deutete auf Bings Kleidung.
Bing trug den senfgelben Tarnanzug – sein Glücksbringer.
»Ich bin jedenfalls bereit«, sagte Bing.
Es war keine Post vom Christmasland dabei. Aber wie auch? Er hatte den Brief ja erst gestern abgeschickt.
*
Am nächsten Tag kam auch nichts.
*
Und ebenso wenig am Tag darauf.
*
Am Montag war Bing sich sicher, dass etwas kommen würde, und er stand schon eine halbe Stunde vor der Zeit neben seinem Briefkasten. Hässliche schwarze Gewitterwolken zogen über der Hügelspitze hinter dem Kirchturm des New American Faith Tabernacle auf. Aus drei Kilometern Entfernung und fünftausendfünfhundert Metern Höhe drang gedämpfter Donner herüber. Es war weniger ein Geräusch als ein V ibrieren, das Bings Körper bis auf die Knochen unter den Fettschichten erzittern ließ. Die Windrädchen im V orgarten drehten sich wie verrückt und klangen wie eine Horde Kinder auf Fahrrädern, die außer Rand und Band einen Berg hinunterrasten.
Das Rumpeln und Krachen beunruhigte Bing. Auch der Tag, an dem die Nagelpistole losgegangen war (so nannte er es bei sich – nicht den Tag, an dem er seinen V ater erschossen hatte, sondern den Tag, an dem die Pistole losgegangen war), war unerträglich heiß und gewittrig gewesen. Sein V ater hatte die Mündung der Pistole an seiner linken Schläfe gespürt und zu Bing hochgesehen. Er hatte einen Schluck von seinem Bier genommen, mit den Lippen geschmatzt und gesagt: »Ich würde Angst haben, wenn ich der Meinung wäre, dass du den Mut dazu hättest.«
Nachdem Bing den Abzug gedrückt hatte, war er noch eine Weile bei seinem V ater sitzen geblieben und hatte dem Prasseln des Regens auf dem Garagendach gelauscht, während John Partridge neben ihm auf dem Boden verendete. Einer seiner beiden Füße hatte gezuckt, und ein Urinfleck hatte sich an der V orderseite seiner Hose ausgebreitet. Bing hatte so lange neben ihm gesessen, bis seine Mutter in die Garage kam und anfing zu schreien. Dann war sie an der Reihe gewesen – diesmal hatte er allerdings keine Nagelpistole benutzt.
Jetzt stand Bing in seinem V orgarten und sah zu, wie sich über der Kirche auf dem Hügel, wo seine Mutter in den letzten Tagen ihres Lebens gearbeitet hatte, die Wolken auftürmten … von Kindesbeinen hatte er jeden Sonntag diese Kirche besucht, schon bevor er überhaupt laufen oder sprechen konnte. Eines der ersten Worte, die er gelernt hatte, war »Lujah!« gewesen, für »Halleluja«. Noch Jahre danach hatte seine Mutter ihn immer »Lujah« genannt.
Inzwischen war die Kirche geschlossen. Pastor Mitchell hatte sich mit der Kollekte und einer verheirateten Frau aus dem Staub gemacht, und das Gebäude war von der Bank beschlagnahmt worden. Die einzigen Sünder, die sich jetzt noch an einem Sonntagmorgen im New American Faith Tabernacle einfanden, waren die Tauben, die in den Dachbalken wohnten. Das leere Gebäude jagte Bing ein wenig Angst ein. Er stellte sich vor, dass es ihn dafür hasste, dass er die Kirche und Gott im Stich gelassen hatte, und manchmal war ihm, als würde es sich vorbeugen, um ihn mit seinen Buntglasfensteraugen wütend anzustarren. An Tagen wie heute, wenn der Wald vom irren Zirpen der Sommerinsekten erfüllt war und flüssige Hitze in der Luft waberte, wirkte die Kirche besonders bedrohlich.
Donner hämmerte durch den Nachmittag.
»Regen, Regen, mach dich fort«, flüsterte Bing. »Geh an einen andren Ort.«
Die ersten warmen Tropfen fielen ihm auf die Stirn. Weitere folgten, hell funkelnd im Sonnenlicht, das vom blauen Himmel im Westen kam. Der Regen fühlte sich fast wie heißes Blut an.
Der Postbote war spät dran, und als er endlich kam, kauerte Bing schon völlig durchnässt unter dem Schindelvordach an seiner Eingangstür. Er lief durch den strömenden Regen zum Briefkasten. Als er ihn erreichte, zuckte ein Blitz aus den Wolken herab und schlug krachend irgendwo hinter der Kirche ein. Bing kreischte auf, während die Welt in blauweißem Licht erstrahlte. Er war sich sicher, dass er getroffen werden und bei lebendigem Leib verbrennen würde. Berührt vom Finger Gottes, als Strafe für den Mord an seinem V ater und für das, was er danach seiner Mutter auf dem Küchenboden angetan hatte.
Im Briefkasten war eine Rechnung von seinem Stromanbieter und ein
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