Christmasland (German Edition)
verschwunden, ohne dass in dem Samtimitat irgendwo eine Beule zu sehen gewesen wäre. V ic hörte, wie Maggie in den Steinen wühlte. Es klang, als würden sich Tausende in dem Beutel befinden.
»Aaa!«, rief V ic.
Auf der anderen Seite des Aquariums drehte sich die Bibliothekarin zu ihr um.
»Ein Loch in der Realität«, sagte Maggie. Nun sah es so aus, als sei ihr linker Arm an der Schulter amputiert worden und aus irgendeinem Grund hätte sie einen Scrabble-Beutel über den Stumpf gestülpt. »Ich suche nicht in diesem Beutel nach den Steinen, die ich brauche, sondern in meiner Ingestalt. Wenn ich sage, dein Fahrrad oder meine Scrabble-Steine seien Messer, mit denen man ein Loch in die Realität schneiden kann, dann meine ich das nicht im übertragenen Sinne.«
Der übelkeiterregende Druck in V ics linkem Auge verstärkte sich.
»Kannst du bitte den Arm aus dem Beutel nehmen?«, fragte V ic.
Mit der freien Hand zog Maggie an dem lilafarbenen Samtsäckchen, und ihr Arm glitt wieder heraus. Maggie stellte den Beutel vor sich auf dem Tisch ab, und V ic hörte die Steine darin klappern.
»Ziemlich unheimlich, ich weiß«, sagte Maggie.
»Wie machst du das?«, fragte V ic.
Maggie holte tief Luft. Es klang fast wie ein Seufzen. »Warum können manche Menschen ein Dutzend Sp-Sp-Sprachen sprechen? Wie schafft Pelé diesen irren Fallrückzieher? Jeder hat eben s-s-so seine Talente, denke ich. Unter einer Million Menschen ist höchstens einer dabei, der attraktiv und talentiert genug ist und dann auch noch das nötige Glück hat, um Filmstar zu werden. Noch seltener sind Leute, die s-s-so gut mit Worten umgehen können wie der Dichter Gerard Manley Hopkins. Er wusste über die Ingestalten Bescheid! Er hat den Begriff geprägt. Manche Leute sind Filmstars, andere Fußballer, und du bist eine st-st-starke Kreative. Es mag dir seltsam vorkommen, aber letztlich ist es auch nicht seltsamer, als wenn jemand mit verschiedenfarbigen Augen geboren wird. Und wir sind nicht die Einzigen. Es gibt noch andere wie uns. Einigen bin ich schon begegnet. Die Steine haben mich zu ihnen geführt.« Maggie beugte sich wieder über die Scrabble-Steine und begann, sie hin und her zu schieben. »Zum Beispiel habe ich mal ein Mädchen im Rollstuhl kennengelernt. Sie konnte den Rollstuhl – so ein schönes, altes Ding mit Weißwandreifen – dazu benutzen, um sich unsichtbar zu machen. Sie musste damit nur rückwärts in die ›krumme Gasse‹ fahren, wie sie es nannte. Das war ihre Ingestalt. Wenn sie in die Gasse fuhr, hörte sie auf zu existieren, konnte aber immer noch s-s-sehen, was in unserer Welt geschieht. In allen Kulturen der Erde gibt es Geschichten über Leute wie dich und mich – Leute, die Totems benutzen, um die Realität zu durchbrechen. Bei den Navajo …« Ihre Stimme wurde leiser und verstummte schließlich ganz.
Ein Ausdruck unglücklichen Begreifens erschien auf ihrem Gesicht. Sie starrte die Steine an. V ic beugte sich vor, um ebenfalls einen Blick darauf zu werfen. Sie konnte gerade noch lesen, was da geschrieben stand, bevor Maggie die Steine eilig durcheinandermischte.
DAS GÖR KANN DEN WRAITH FINDEN.
»Was soll das bedeuten? Was ist ein Wraith?«
Maggie blickte V ic mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Blick wirkte ängstlich und entschuldigend zugleich.
»Ach, Kleine …«, sagte Maggie.
»Ist das etwas, was du verloren hast?«
»Nein.«
»Oder etwas, was ich für dich finden soll? Was ist es? Ich kann dir bestimmt helfen …«
»Nein. Nein. V ic, versprich mir bitte, dass du nicht nach ihm suchen wirst.«
»Geht es um einen Typen?«
»Es geht um eine Menge Ärger, den du dir einhandeln kannst. Wie alt bist du? Zwöl f ?«
»Dreizehn.«
»Okay. Als-s-s …« Maggie blieb stecken. Zittrig holte sie Luft und biss sich auf die Unterlippe, so heftig, dass V ic beinahe aufgeschrien hätte. Dann atmete Maggie aus und sprach normal weiter: »… versprich es mir.«
»Aber warum wollte dir dein Scrabble-Beutel mitteilen, dass ich ihn finden kann? Warum hat er diese Worte gebildet?«
Maggie schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Die Steine haben keinen eigenen Willen, genauso wenig wie ein Messer. Ich kann die Steine benutzen, um Dinge herauszufinden, so wie man einen Brieföffner benutzt, um Briefe aufzumachen. Und das hier war gerade eine Briefbombe. Hochgradig explosiv.« Maggie saugte an ihrer blutenden Unterlippe.
»Aber warum soll ich nicht nach ihm suchen? Du hast selbst gesagt, dass
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