Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Angebot abschlagen?‹ Wie gesagt, ich war damals dreißig Jahre jünger. Wir gingen zusammen essen und waren seitdem unzertrennlich. Ein halbes Jahr später heirateten wir. Wir bewirtschafteten die Ranch meiner Eltern, die inzwischen beide gestorben waren, meine Mutter an der Schwindsucht und mein Vater an einem Comanchenpfeil, und ich dachte, jetzt kann dein Leben beginnen. Du besitzt eine Ranch, hast die hübscheste Frau von ganz Texas und wirst die schönsten Kinder des Staates haben.« Seine Miene verfinsterte sich. »Aber es kamen keine Kinder, und bevor ich mich versah, war auch Carmen weg. Sie brannte mit einem Pferdehändler durch und zog nach San Antonio, wo sie einen Schauspieler kennenlernte und beschloss, mit ihm nach Denver durchzubrennen. Unterwegs wurden sie von Comanchen angegriffen. Ihr Anführer skalpierte den Schauspieler und nahm Carmen in sein Tipi mit. Seitdem hat niemand mehr was von ihr gehört.«
»Und woher wissen Sie das mit dem Schauspieler?«
»Stand damals in allen Zeitungen, und ich war plötzlich das Gespött der Gegend. Der gehörnte Rancher, der sich von einem mexikanischen Flittchen hatte reinlegen lassen, denn als sie ging, nahm sie auch meine ganzen Ersparnisse mit. Ich hätte sie natürlich anzeigen und vor Gericht bringen können, aber das hätte sowieso nichts gebracht, und ich liebte sie ja noch immer. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Ranch zu verkaufen und Westtexas zu verlassen. Ich wollte so weit wie möglich weg, landete in Wyoming, dann in Oregon und schließlich hier oben in Kanada. Mal was anderes, diese Berge, und Mexikanerinnen, die mir gefährlich werden können, gibt’s hier auch nicht. Das Schlimme ist: Ich würde sie wieder heiraten, wenn sie hier auftauchen würde. Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, aber so ist es nun mal.« Er wurde verlegen, hatte wohl gar nicht vorgehabt, ihr so viel zu erzählen. »Können Sie das verstehen, Clara? Dass man eine Frau, die einen auf so schäbige Weise hintergangen und enttäuscht hat, wieder heiraten würde?«
Darauf konnte Clarissa keine Antwort geben. Sie hatte im Augenblick auch mehr mit ihrem Schecken zu tun, der alle paar Schritte stehenblieb und im Unterholz nach etwas Essbarem suchte. »Nehmen Sie ihn an die Zügel«, riet ihr der Rancher. »Sie müssen ihm zeigen, wer das Sagen hat.« Er wandte sich an den Schecken. »Hast du gehört, Pinto? Du hast eine Lady im Sattel, und es gehört sich nicht, ihr deinen Willen aufzuzwingen. Tu gefälligst, was sie will, oder du bekommst heute keinen Hafer. Hast du mich verstanden?«
Clarissa zog ihn mit den Zügeln von einem Strauch weg und führte ihn auf den Trail zurück. Sie bemerkte nicht, wie Ted und Rocky hinter ihr verstohlen grinsten. Sie saß inzwischen etwas sicherer im Sattel, spürte aber, dass ihr noch einiges fehlte, um mit dem Rancher und seinen Cowboys mithalten zu können. Außerdem schmerzten ihre Beine. Sie saß mit ihrem Rock und ihrer wollenen Unterwäsche im Sattel und hatte sich die Innenseiten ihrer Oberschenkel wundgescheuert. Sie verlagerte ihr Gewicht. Was trieb sie bloß nur dazu, ständig neue Herausforderungen anzunehmen? Ihr Stolz, ihre Eitelkeit, der bloße Zufall, nach einem Fallensteller einem Rancher begegnet zu sein? Die Notwendigkeit, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Frank Whittler zu bringen? Welche Frau aus Vancouver lernte schon innerhalb weniger Monate, auf Schneeschuhen zu laufen, einen Hundeschlitten zu steuern und im Sattel eines Cowboypferdes durch den Schnee zu reiten? Was war nur in sie gefahren?
Gleichzeitig musste sie zugeben, dass ihr diese Herausforderungen auch viel Freude bereiteten, ungeachtet der großen Gefahren, die sie bedrohten, und des beinahe tödlichen Unfalls, den sie nur dank ihres Schutzgeistes überlebt hatte. Ihr Schutzgeist … Hatte der Medizinmann der Shuswap recht? Begleitete sie Bones tatsächlich durch ihr ganzes Leben? Blieb er stets in ihrer Nähe, um sie vor großem Unglück zu bewahren? Oder war er doch nur ein Wesen aus ihren Träumen, das sie sich nur einbildete? Und vor allem … Wo war er jetzt?
Ihr Weg führte sie fast zwei Stunden am Waldrand entlang und über einige Hügelkämme in ein sichelförmiges Tal hinab. Clarissa ritt immer sicherer. Pinto gehorchte ihr inzwischen aufs Wort und reagierte schon auf einen leichten Zügeldruck, wohl auch unter dem Eindruck, dass Flagler stets in ihrer Nähe blieb und darauf achtete, dass sich der Schecke keinen Fehltritt
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