Chronik der Silberelfen Bd. 1 - Zeit der Rebellen
Immer dann, wenn wir uns weit genug von der „Zivilisation“ entfernt wähnten und gerade kein Wild in Sicht war, verweilten wir auf einer Lichtung und übten uns im Schwertkampf, bei dem wir Stöcke als Waffen benutzten. Oder wir trainierten mit dem Langbogen, der Armbrust und dem Wurfmesser. Wir waren uns sicher, dass wir eines Tages nach Hause zurückkehren würden, und bis dahin wollten wir nicht alles verlernt haben. Wir mussten fähige Kämpfer bleiben. Wir mussten in der Lage sein, uns und unsere Festung zu verteidigen, auch wenn wir das nie offen aussprachen.
Wenn wir uns aus unserem Jagdgebiet hinauswagten, offenbarte uns die Landschaft ein vertrautes Antlit z – hier eine Böschung, da eine Flussmündung, dort ein See, der sich in das Gelände hineinduckte. Diese Anderwelt ähnelte der unseren so sehr; nur die Städte, die Dörfer, die Menschen waren anders.
Schon seltsam: Die Götter stellte ich die ganze Zeit infrag e – den Schleier nie. Ich fragte mich nie, warum ich nicht einfach die Hand ausstrecken und meine Heimat berühren konnte; warum sie sich vor mir verbarg und ich dennoch ihre Umrisse erkennen konnte wie eine Geistererscheinung aus der Unterwelt. Doch das war nichts als ein verlockendes Trugbild. Dabei hätte ich nur ein paar Tage lang wandern müssen, um zu unserem Schleusentor zu gelangen. Ein Schritt weiter und ich wäre wieder zurück gewesen. Zurück in der realen Welt.
Aber das konnte ich nicht tun, nicht solange Conal es nicht konnte. Manchmal erheiterte mich die Vorstellung, dass ein Mensch mir mehr am Herzen liegen könnte als meine eigene Heimat, als mein Zuhause, das mich behütet hatte, während kein Mensch sich um mich geschert hatte. Aber so war es tatsächlich: Für Conal hätte ich mein Zuhause für immer aufgegeben. Das widersprach meinem Selbstbild so sehr, dass ich lachen musste.
„Was ist denn so komisch?“ Conal lag im Gras unterhalb einer Felsnase, alle viere von sich gestreckt, und klang eigentlich zu müde, um wirklich an einer Antwort interessiert zu sein. Steinplatten bedeckten einen großen, kahlen Hügel, um und unter uns erstreckte sich ein Nadelwald. Die Baumkronen leuchteten golden im Sonnenlicht. Unsere Waffen hatten wir für ein Bad in der Nachmittagssonne abgelegt. Ich saß gegen den grauen Fels gelehnt. Die Kühle des Steins in meinem Rücken war durchaus angenehm, denn die Sonne schien mir heiß auf die Brust und ins Gesicht. Wir waren barfuß, wie immer wenn wir auf die Jagd gingen. Ich fühlte, wie eine kleine Spinne sachte über meine Zehen huschte. Als ich meinen Fuß ein wenig bewegte, krabbelte sie durch das dichte Gras davon.
„Nichts ist komisch“, gab ich schließlich zur Antwort. „Mir geht’s einfach gut.“
Er betrachtete mich eine Weile aus den Augenwinkeln und sagte schließlich nüchtern: „Tatsächlich? Freut mich.“
Das brachte mich wieder zum Lachen. „Mir wird’s noch besser gehen, wenn wir hier endlich raus sind.“
„Mir auch.“ Er setzte sich abrupt auf. „Pst! Hast du das gehört?“
Ich verstummte augenblicklich. In der leichten Brise vernahm ich das leise Rauschen der Baumkronen. Allerlei Getier huschte rege durchs Unterholz und von ferne hörte ich das Säuseln kleiner Wellen auf ruhiger See. Und dann war da noch ein kaum hörbares Wimmer n …
Ein Wimmern.
Conal sah mir in die Augen, dann wanderte sein Blick über meine Schulter.
„Der Fels“, sagte er.
Es war nicht nur ein Fels. Es war ein Haufen Steine. Sie waren aneinandergelehnt und sahen aus wie Betrunkene, die sich stützten, um die Aussicht zu genießen. Einer der Steine war von Wind und Wetter wie von einem übermächtigen Schwertstreich mittendurch gespalten. Die glänzend weiße Maserung auf beiden Seiten des dunklen Spalts war deutlich zu erkennen. Ich rollte mich auf den Bauch, kroch in den Spalt und lauschte.
Es hat aufgehört , sagte ich lautlos zu Conal und drehte mich nach ihm um.
Was immer es war, es hat dich gehört. Er kauerte im Spalt über mir, beide Beine gegen die Felswände gestemmt. Er sah zu mir herunter. Geh ein Stückchen weiter rein.
Wie eine Schlange kroch ich bäuchlings voran. Es hatte auch seine Vorteile, kleiner als Conal zu sein. Er wäre jetzt sicher schon stecken geblieben wie ein Korken in der Flasche.
Schau, links von dir!
Ich sah, was er meinte, oder besser gesagt, ich konnte es fühlen. Unter dem Felsen war ein schmaler Schlitz, der von Gras und Erde verdeckt wurde. Ich fühlte mit den Fingern hinein und
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