Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
selbst. Eine dunkle Gestalt in einem dunklen Umhang bewegte sich von Baum zu Baum, und als sie ins Licht trat, streckte sie einen Arm mit einer blitzenden Sense aus und hielt mit der anderen Hand eine Maske an einem Stab vor das Gesicht, eine Maske mit dem Bild des Todes, einen gemalten Totenkopf.
Laute des Erstaunens drangen aus dem Publikum. Es war der Tod mit der erhobenen Sense, der vor den Zuschauern stand, der Tod am Rande eines dunklen Waldes. Und während er sich zum Rhythmus der Musik in seinem schwarzen, wogenden Mantel mit der Anmut eines großen Panthers hin und her bewegte, kamen weitere Figuren aus den Seitenkulissen. Zuerst eine alte Frau, mit krummem Rücken und grauem Haar, die einen großen Korb mit Blumen trug. Sie schlurfte über die Bühne und wackelte mit dem Kopf zum Takt der Musik und den tänzelnden Schritten des Sensenmannes. Als sie ihn erblickte, stutzte sie, stellte den Korb hin und faltete die Hände zum Gebet. Sie war müde, legte den Kopf auf die Hände wie zum Schlaf; dann streckte sie sie dem Tod flehend entgegen. Aber als er auf sie zutrat und sich zu ihr niederbeugte, um ihr ins Gesicht zu schauen, das für uns unter dem Haar im Schatten lag, prallte er zurück und fächelte sich mit der Hand frische Luft zu. Im Publikum wurde gelacht, und das Gelächter nahm zu, als die Alte den Tod aufs Korn nahm. Die Musik spielte einen schnellen Tanz zu der Verfolgung, die sich auf der Bühne abspielte, bis der Schnitter Tod sich schließlich in den Schatten eines Baumes rettete und das maskierte Gesicht wie ein Vogel in einem Flügel seines Mantels barg. Und die Alte, geschlagen und enttäuscht, nahm ihren Korb und trat, während die Musik langsamer wurde, von der Bühne ab. Mir gefiel es nicht, und ich mißbilligte das Gelächter.
Jetzt traten andere Figuren auf, Krüppel an Krücken, Bettler in aschgrauen Lumpen, und alle streckten die Hände nach dem Tod aus, der um sie herumwirbelte und jedem Zugriff durch eine schnelle Drehung zu entschlüpfen wußte und sie am Ende, mit einer Geste des Widerwillens und Überdrusses, von der Bühne jagte.
Da erst bemerkte ich, daß die weiße, schlaffe Hand, die diese Gesten vollführte, nicht geschminkt war. Es war eine weiße Vampirhand, die das Publikum zum Lachen gebracht hatte, und sich nun, da die Bühne leer war, zu dem grinsenden Schädel hob, wie um ein Gähnen zu verbergen. Dann lehnte er sich, immer mit der Maske vor dem Gesicht, an einen der gemalten Bäume, als wolle er in Schlaf fallen. Die Musik, die alles untermalte, war jetzt wie leises Vogelgezwitscher und Wellengesäusel, und der Scheinwerfer, der ihn umkreiste, blendete ab, während er einschlief.
Dann leuchtete der Scheinwerfer erneut auf und hob eine junge Frau aus dem Dunkel der Bühne. Sie war hochgewachsen und von einer reichen blonden Haarflut beinahe ganz bedeckt. Ich fühlte die Bewunderung des Publikums, als sie zwischen den Bäumen des gemalten Waldes einherzutaumeln schien und nur hin und wieder mit ihrem schönen Gesicht, fein gemeißelt wie das einer Marmor-Madonna, in den Zuschauerraum starrte. Das Seufzen, das über ihre Lippen drang, war wie das Echo auf die zarte, romantische Flötenmelodie, die ihrer Schönheit zu huldigen schien. Der Schnitter Tod erwachte, und auch er vollzog eine Geste der Bewunderung. Dann warf er die Totenmaske plötzlich fort und zeigte ein weißschimmerndes Gesicht, strich sich das schwarze Haar zurück, zupfte an seiner Weste und wischte ein Stäubchen von seinem Rockaufschlag. Der Tod als Freier. Und man klatschte Beifall für die brillante Mimik, als wäre sie eine meisterhafte Täuschung, während es doch mit Bestimmtheit das Gesicht eines Vampirs war, des Vampirs nämlich, der mich im Quartier Latin angesprochen hatte.
Ich griff nach Claudias Hand, doch sie blieb still, als sei sie hingerissen von der Vorstellung. Jetzt näherte sich der Vampir dem Mädchen, das ihn erblickte und stehenblieb, den Mund wie ein Kind klagend geöffnet. Obgleich augenscheinlich eine erwachsene Frau, ähnelte sie in der Tat sehr einem Kinde. Nur einige kleine Falten um die Augen verrieten ihr wahres Alter. Die kleinen Brüste unter ihrer Bluse waren wunderschön geformt, ihre schmalen Hüften verliehen ihr einen sinnlichen Ausdruck. Als sie zurückschrak, standen Tränen in ihren Augen, und ich empfand Angst und Verlangen zugleich. Ihre Schönheit war herzzerreißend.
Hinter ihr tauchten plötzlich zahlreiche bemalte Schädel aus dem Dunkel, vier
Weitere Kostenlose Bücher