Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
traten, der Mann hatte den Arm schützend um die Frau gelegt.
Dann rannte ich. Leute sahen mich rennen. Ich fragte mich, wie es den Leuten erscheinen mußte, was für ein wildes Geschöpf sie sehen mußten, das viel zu schnell für ihre Augen war. Ich erinnere mich, daß ich mich schwach und elend fühlte, als ich stehenblieb, daß meine Adern brannten, als käme ich fast um vor Hunger. Ich dachte daran, zu töten, und der Gedanke erfüllte mich mit Abscheu. Ich setzte mich auf die Steinstufen einer Kirche, an einer kleinen Seitentür, die nachts verriegelt und verschlossen war. Der Regen hatte nachgelassen. So schien es jedenfalls. Und die Straße war öde und still, obgleich weit weg ein Mann mit einem glänzenden, schwarzen Regenschirm lief. Armand stand in einiger Entfernung unter einem Baum. Hinter ihm schien sich eine weite Fläche aus Bäumen, feuchtem Gras und Dunst auszubreiten, der aufstieg, als sei die Erde warm.
Unterdessen ließ das elende Gefühl in meinem Magen und meinem Kopf nach, und als es sich vollends gelegt hatte, konnte ich wieder klar denken. Mir wurde alles bewußt, was geschehen war, die große Entfernung, die wir vom Theater bis hierher zurückgelegt hatten, und daß die Überreste von Madeleine und Claudia sich noch immer dort befanden. Und ich fühlte mich entschlossen und meiner eigenen Vernichtung sehr nahe.
›Ich konnte es nicht verhindern‹, sagte Armand leise zu mir. Sein Gesicht war unsagbar traurig; er sah mich nicht an, als wisse er, es sei zwecklos, mich zu überzeugen; und ich fühlte seine Trauer, seine Niedergeschlagenheit.
›Doch‹, rief ich, ›du hättest es gekonnt! Das weißt du recht gut! Du warst ihr Anführer, der einzige, der die Grenzen seiner eigenen Macht kannte. Du warst ihnen an Verstand überlegen, und sie hätten auf dich gehört. Du hättest ihnen Einhalt gebieten können, wenn du willens gewesen wärest, deine Macht auszuüben über deine selbst gezogenen Grenzen hinaus. Aber du wolltest das Bild nicht trüben, das du dir von dir gemacht hattest. Deine eigene kostbare Vorstellung von der Wahrheit. Ach, ich verstehe dich sehr gut. Ich sehe in dir das Spiegelbild meiner selbst.‹
Armand sagte nichts. Aber der Schmerz, der sich in seinem Gesicht ‘ausdrückte, war schrecklich. Er fühlte mein Leid mit der großen faszinierenden Kraft, die soviel stärker war als meine. Doch ich achtete seinen Schmerz nicht; er war mir gleichgültig.
›Ich verstehe dich nur zu gut‹, fuhr ich fort. ›Diese Untätigkeit in mir war das Grundübel, diese Schwäche, die Weigerung, eine brüchige und stumpfsinnige Moral aufs Spiel zu setzen, dieser fürchterliche Stolz. Dafür wurde ich das, was ich bin, obwohl ich wußte, daß es falsch war. Dafür ließ ich Claudia zu einem Vampir machen, obwohl ich wußte, daß es falsch war. Dafür ließ ich zu, daß sie Lestat umbrachte, obwohl ich wußte, daß es falsch war, ließ sie die Tat begehen, die ihr zum Verhängnis wurde. Ich rührte keinen Finger, um sie daran zu hindern. Und Madeleine - ich brachte ihr Unheil, denn ich hätte sie nicht zu einer unseresgleichen machen dürfen. Ich wußte, daß es falsch war. Nun, ich sage dir: Ich bin nicht mehr die schwache, untätige Kreatur, die ein Übel nach dem anderen gesponnen hat, bis das Gewebe undurchdringlich geworden war und ich selber sein übertölpeltes Opfer. Es ist vorbei! Jetzt weiß ich, was ich tun muß. Und ich warne dich, um der Gnade willen, die du mir erwiesen hast, als du mich aus dem Grabe holtest, in dem ich elend umkommen sollte:
Geh nicht wieder in deine Klause im Theater! Halte dich da fern!«
»Ich wartete die Antwort nicht ab, sondern ließ ihn stehen, ohne zurückzublicken. Ich weiß nicht, ob er mir antworten wollte oder ob er mir folgte - ich kümmerte mich nicht darum.
Es war der Friedhof von Montmartre, auf den ich mich zurückzog. Damals war es dort noch ganz ländlich und friedlich am Rande der brodelnden Weltstadt. Ich schweifte zwischen den niedrigen Häusern mit ihren Bauerngärtchen umher, tötete, ohne daß ich Genugtuung darin fand, und suchte mir einen Sarg, in dem ich mich für den Tag auf dem Friedhof zur Ruhe legte.
Als am nächsten Abend die graue Wintersonne versank, stieg ich aus der dumpfen feuchten Erde und begab mich an die Ausführung eines Planes, an die ich freudig mein Leben setzen wollte, mit der ganzen Freiheit eines Wesens, dem dieses Leben gleichgültig ist, denn es hat die Kraft, den Tod auf sich zu nehmen.
In einem
Weitere Kostenlose Bücher