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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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des Todes meines eigenen Leibes gewesen, der ich alles, was ich früher menschlich genannt, hatte welken und sterben sehen? Das war eine unzerreißbare Kette, die mich fest an diese Welt band, doch mich für ewig zu ihrem Ausgestoßenen machte, einem Schreckgespenst mit einem gebrochenen Herzen.
    Die See lullte mich ein, doch meine Träume waren böse, meine Erinnerungen bitter: eine Winternacht in New Orleans; ich ging über den Friedhof und erblickte meine Schwester, alt und krumm, einen Strauß weißer Rosen im Arm, die Domen sorgfältig mit Pergamentpapier umwickelt, das graue Haupt gebeugt, auf dem Weg zu dem Grabe, wo man ihrem Bruder Louis einen Stein gesetzt hatte, nahe dem des jüngeren Bruders… Louis, der bei dem Brand von Pointe du Lac ums Leben gekommen war. Diese Blumen waren für ihn, als seien nicht fünfzig Jahre seit seinem Tode vergangen, als ob ihre Erinnerung, wie die ihres Bruders, ihr keine Ruhe ließe. Sorge hatte ihre aschfarbene Schönheit gefurcht, Sorge ihren schmalen Rücken gekrümmt. Und was hätte ich nicht darum gegeben, über ihr Silberhaar zu streichen, ihr liebe ins Ohr zu flüstern, wenn die Liebe sie in ihrem Greisenalter nicht in größeren Schrecken versetzt hätte als der Kummer. Und so ließ ich sie in ihrem Kummer. Ich träumte zu viel und zu lang in dem Kerker dieses Schiffes, in dem Kerker meines Leibes, der auf jeden Sonnenaufgang abgestimmt war wie sonst kein sterblicher Leib. Und schließlich schlug auch mein Herz schneller nach den Bergen Osteuropas, schlug schneller in der einen Hoffnung, daß wir irgendwo in diesen rauhen Bergen die Antwort finden würden auf die Frage, warum, bei Gott, es ein solches Dasein geben durfte - warum, bei Gott, es beginnen durfte, und wie, bei Gott, es enden mochte. Ich hatte nicht den Mut, das wußte ich, es ohne diese Antwort zu beenden. Und dann war es soweit, und aus den Wassern des Mittelmeeres wurden die des Schwarzen Meeres.«

 
     
    D er Vampir stieß einen Seufzer aus. Der Junge hatte die Ellbogen aufgestützt, die rechte Wange und das Kinn in die Hand geschmiegt, und sein Ausdruck zeigte Neugier und Wissensdurst, obwohl seine Augen vor Müdigkeit rot angeschwollen waren. »Glaubst du, ich spiele mit dir?« fragt e der Vampir und zog die feinen, dunklen Brauen zusammen.
    »Nein«, erwiderte der Junge schnell. »Ich werde mich hüten. Ihnen noch mehr Fragen zu stellen. Sie werden mir schon alles zu seiner Zeit erzählen.« Sein Mund entspannte sich, und er blickte den Vamp ir erwartungsvoll an, damit er fortfahre.
    Von irgendwo aus dem Innern des alten viktorianischen Hauses kam ein Geräusch. Der Junge sah zur Tür, als habe er vergessen, daß es um ihn herum ein Gebäude gab. Irgend jemand war über die knarrenden Dielen gegangen. Doch der Vampir ließ sich nicht stören; er sah vor sich hin, als wolle er sich abermals von der Gegenwart lösen.
    »Jenes Dorf - ich habe den Namen vergessen. Ich erinnere mich, daß es viele Meilen von der Küste entfernt war und wir allein in einer Kutsche reisten. Diese Kutsche - Claudia hatte sie besorgt, und ich hätte es mir denken können; aber damals ließ ich alles mit mir geschehen. Vom ersten Augenblick unserer Ankunft in Warna an hatte ich gewisse Veränderungen an Claudia bemerkt, die mir deutlich machten, daß sie nicht nur meine, sondern auch Lestats Tochter war. Durch mich hatte sie den Wert des Geldes kennengelernt, doch von ihm die Leidenschaft geerbt, es mit vollen Händen auszugeben; und die luxuriöseste schwarze Kutsche, die sie auftreiben konnte, war ihr gerade gut genug; mit weichen Ledersitzen und so geräumig, daß sie eine ganze Reisegesellschaft hätte befördern können, und nicht nur einen Mann und ein Kind und eine kunstvoll geschnitzte Kiste aus Eichenholz. Hinten waren zwei Koffer angeschnallt mit den schönsten Kleidern, die Claudia in den Läden hatte finden können; und der Wagen mit den großen, leichten Rädern und der guten Federung trug uns bequem und schnell über die Gebirgsstraßen dieses sonderbaren Landes.
    Und es war ein sonderbares Land. Einsam, finster, unzivilisiert, mit Burgen und Ruinen, die im Dunkel lagen, wenn sich der Mond hinter Wolken verbarg, so daß ich in solchen Stunden ein Bangen verspürte, das ich in New Orleans nicht gekannt hatte. Und die Einwohner waren auch kein Trost; wir waren nackt und verloren in ihren winzigen Dörfern und wurden nie das Gefühl los, bedroht zu sein. In New Orleans hatten wir es nicht nötig gehabt, unser

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