Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
lief, wie ich gehofft hatte, noch vor Tagesanbruch aus. Einige Leute winkten vom Pier zum Abschied, als das große Schiff zunächst erzitterte und sich mit einem mächtigen Ruck zur Seite trieb, um dann in einem majestätischen Bogen in die Strömung des Mississippi hinauszugleiten. Die Lichter von New Orleans wurden kleiner und kleiner und waren schließlich nur noch ein schwacher Schimmer gegen die sich erhellenden Wolken. Ich war sterbensmüde, blieb jedoch so lange an Deck, wie ich konnte, und schaute den Lichtern nach, die ich vielleicht nie wiedersehen würde. Und als wir stromabwärts an den Landungsstegen von Freniére und Pointe du Lac vorübergetragen wurden, als ich die Wand von Pappeln und Zypressen am Ufer ragen sah, da merkte ich, daß der Morgen gefährlich nahe war.
    Als ich unsere Kabine betrat, fühlte ich mich erschöpft wie nie zuvor. Nie in all den Jahren, in denen wir drei zusammengewesen waren, hatte ich so schreckliche Angst gekannt wie jetzt. Und dagegen gab es keinen Trost, kein Gefühl der Sicherheit. Nur die Linderung, die einem die Müdigkeit schenkt, wenn Körper und Geist es einfach nicht länger ertragen können. Denn obwohl Lestat nun schon Meilen von uns entfernt war, hatte seine Auferstehung in mir ein Gewirr von Ängsten hervorgerufen, denen ich nicht entrinnen konnte. Noch als Claudia zu mir sagte: Jetzt sind wir sicher, Louis‹, und ich ›ja‹ flüsterte, sah ich Lestat in der Tür stehen mit seinen hervorquellenden Augen und dem vernarbten Fleisch. Wie war er zurückgekommen, wie hatte er über den Tod triumphieren können? Wie war es möglich gewesen, daß aus einer eingeschrumpften Mumie wieder ein lebendes Wesen wurde? Wie auch die Antwort lauten mochte - was für eine Bedeutung hatte es, nicht nur für ihn, sondern auch für Claudia und mich? Und wenn wir auch vorläufig vor ihm sicher waren - waren wir sicher vor uns selber?
    Ein seltsames ›Fieber‹ brach auf dem Schiff aus. Es war auffallend frei von Ungeziefer, wenn man auch gelegentlich totes Gewürm fand, trocken und gewichtslos, als sei es schon seit Tagen tot. Doch das Fieber war da. Zuerst überkam es einen Passagier in Form von Schwäche und einem wunden Hals, dann bemerkte man dort kleine Wundmale, auch an anderen Stellen, und manchmal gar keine. Und manchmal starb ein Fahrgast im Schlaf, so daß zahlreiche Bestattungen vorgenommen wurden, während wir den Atlantik überquerten. Da ich eine natürliche Furcht vor Fieber hatte, hielt ich mich den Mitreisenden fern, vermied es, mit ihnen in den Gesellschaftsräumen zusammenzukommen, ihre Geschichten und Träume und Erwartungen anzuhören, und nahm meine ›Mahlzeiten‹ allein. Doch Claudia liebte es, am frühen Abend an Deck zu stehen und sie zu beobachten.
    Dann saß ich allein in der Kabine, schaute durch das Bullauge und spürte das sanfte Auf und Ab des Meeres, erblickte die Sterne, klarer und leuchtender, als sie je an Land gewesen, und so tief, daß sie in die Wellen zu tauchen schienen. Es war, als könne sich in der Begegnung von Himmel und Meer ein großes Geheimnis offenbaren, ein gewaltiger Abgrund für immer schließen. Aber wer sollte diese Offenbarung vollbringen? Gott? Oder Satan? Mir kam plötzlich in den Sinn, es müsse ein großer Trost sein, Satan zu kennen, sein Antlitz zu erblicken, wie furchtbar es auch sein möge, zu wissen, daß ich ihm ganz und gar gehörte, und aus der Qual dieser Unwissenheit zur ewigen Ruhe zu kommen. Durch einen Schleier zu schreiten, der mich für immer von allem trennen würde, das ich ›menschliche Natur‹ nannte.
    Ich fühlte, daß sich das Schiff mehr und mehr diesem Geheimnis näherte. Das Firmament schien unendlich; es wölbte sich über uns mit atemberaubender Schönheit und Stille. Doch dann erschrak ich über die Worte zur ewigen Ruhe: denn in der Verdammnis würde es, konnte es keine Ruhe geben; und was war die jetzige Qual, verglichen mit den ewigen Flammen der Hölle? Das Meer, das unter den unveränderlichen Sternen wogte, diese Sterne selber - was hatte es mit Satan zu tun? Und jene Bilder aus unserer Kindheit, in der wir von sterblicher Unrast so erfüllt sind, daß sie uns kaum wünschenswert erscheinen: Seraphime, die immer und ewig Gottes Antlitz schauen - und Gottes Antlitz selber - das war die ewige Ruhe, von der die wogende See nur eine sehr schwache Verheißung war. Doch selbst in diesen Stunden, in denen das Schiff und alle Welt schlief, schienen Himmel und Hölle nicht mehr als quälende

Weitere Kostenlose Bücher