Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
hatte die Wohnung noch nicht in Besitz nehmen können. Nicht genug Zeit, um ein Verbrechen an Nicki zu argwöhnen.
Ich eilte über das Dach, ließ mich an der hinteren Mauer zum Hoffenster nieder und sah, daß auch dort die Vorhänge entfernt worden waren.
Und in allen Kandelabern und Wandleuchtern brannten Kerzen. Einige steckten sogar im eigenen Wachs auf dem Pianoforte und dem Schreibpult. Und in dem Raum herrschte ein wildes Durcheinander.
Alle Bücher lagen vor den Regalen, einige waren sogar zerfetzt. Selbst die Noten waren blattweise über den Teppich verstreut, und die Bilder lagen zusammen mit anderen Habseligkeiten - Münzen, Geldscheinen, Schlüsseln - auf den Tischen.
Vielleicht hatten die Dämonen die Wohnung auseinandergenommen, als sie Nicki entführten. Aber wer hatte dann die ganzen Kerzen angesteckt? Ich stand vor einem Rätsel. Ich lauschte. Niemand da. So schien es wenigstens. Aber auch wenn ich keine Gedanken vernahm, so waren doch kleine Geräusche auszumachen. Ich kniff die Augen zusammen, sammelte mich, und ich hörte, wie Seiten umgeblättert wurden und dann etwas zu Boden fiel. Erneut das Umblättern alter, fester Pergamentseiten. Wieder wurde das Buch fallen gelassen.
So leise es ging, öffnete ich das Fenster. Noch immer diese Geräusche, aber kein Menschenduft, kein Gedankenstrahl.
Und doch konnte ich einen Geruch ausmachen - stärker als der abgestandene Tabakqualm und das Kerzenwachs. Der Geruch, der Vampiren von der Friedhofserde anhaftet.
Noch mehr Kerzen im Korridor. Kerzen im Schlafzimmer und das gleiche Durcheinander, stapelweise aufgeschlagene Bücher, verknitterte Bettwäsche, Bilder zu Haufen geschichtet. Durchwühlte Schränke, herausgezogene Schubladen.
Und weit und breit keine Geige.
Nur die kleinen Geräusche aus einem anderen Zimmer, Seiten, die sehr schnell umgeblättert wurden.
Wer immer er auch war - und natürlich wußte ich, wer es sein mußte -, es kümmerte ihn einen Dreck, daß ich da war!
Ich ging den Korridor entlang, bis ich in der Tür zur Bibliothek stand und ihn geradewegs anstarrte, während er sich weiter seiner Arbeit widmete.
Natürlich war es Armand. Doch der Anblick, den er bot, traf mich einigermaßen unvorbereitet.
Kerzenwachs tropfte über die Büste Cäsars, ergoß sich über die farbenfrohen Länder des Globus. Und die Bücher türmten sich auf dem Teppich, außer denen im letzten Eckregal, vor dem er in alter Lumpenpracht stand und mich völlig ignorierte, während er mit der Hand über die Seiten strich, die Augen auf die Zeilen geheftet, die Lippen halb geöffnet, mit dem Gesichtsausdruck eines Insekts, das in konzentrierter Andacht ein Blatt verspeist.
Er sah zum Fürchten aus. Er schien das Buch förmlich leerzusaugen.
Schließlich ließ er es fallen, und sogleich nahm er ein anderes zur Hand, schlug es auf und verschlang es in nämlicher Weise, wobei seine Finger in astronomischer Geschwindigkeit über die Zeilen flogen.
Und mir wurde klar, daß er alles in der Wohnung penibel inspiziert hatte, sogar die Leintücher und Vorhänge, die Bilder, die von der Wand genommen worden waren, den Inhalt der Küchenschränke und Schubladen. Aber nur den Büchern entnahm er wirkliches Wissen. Alles von Cäsars »Gallischem Krieg« bis zu modernen englischen Romanen lag auf dem Boden.
Seine Vorgehensweise war freilich nicht das Schlimmste. Viel übler noch war das Chaos, das er anrichtete, die völlige Mißachtung aller Gegenstände, die er ergriff.
Und die völlige Mißachtung meiner Person.
Er durchblätterte das letzte Buch und wandte sich den alten Zeitungen zu, die in einem unteren Regal gestapelt lagen, und ich trat den Rückzug an, den Blick wie betäubt auf seine kleine, verschmutzte Gestalt gebannt. Sein Haar schimmerte, so dreckverfilzt es auch war; seine Augen flackerten wie zwei Lichter.
Zwischen all den Kerzen und den zarten Farben der Wohnung gab er eine einigermaßen groteske Figur ab, dieser schmuddelige Überrest des Schattenreichs, und doch war seine Schönheit ungebrochen. Und in diesem hellen Licht bemerkte ich zum erstenmal, daß er von wildem Groll durchdrungen war.
Ich war zutiefst verwirrt. Er war gleichzeitig gefährlich und von magischer Anziehungskraft. Ich hätte ihn noch ewig anschauen können, aber mein Instinkt sagte mir: Geh fort. Überlasse ihm diese Stätte, wenn er sie will. Was macht das jetzt schon aus?
Die Geige. Ich versuchte mit aller Kraft, an die Geige zu denken, meinen Blick von seinen
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