Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
die ganze Lichtung von diesem Schlachtruf wider, und Tausende von Sterblichen rasten ins Gehölz.
Wie um alles in der Welt kann das eigentlich geschehen, dachte ich plötzlich, daß ich ein Gott bin, voll von Menschenblut, und daß ich doch vor einer Meute keltischer Barbaren durch diese verdammten Wälder fliehe?
Ich blieb nicht einmal stehen, um mir dieses weiße Gewand vom Leib zu reißen, sondern zerrte es mir im Laufen herunter, und dann sprang ich auf die Äste über mir und sauste noch schneller durch die Wipfel der Eichen.
Innerhalb weniger Minuten hatte ich meine Verfolger so weit abgehängt, daß ich sie nicht mehr hören konnte. Aber ich rannte immer weiter, sprang von Ast zu Ast, bis es nichts mehr zu fürchten gab, außer der Morgensonne.
Und ich machte eine Erfahrung, die Gabrielle schon ganz früh auf euren Wanderschaften gemacht hatte: daß ich mich nämlich ganz leicht in die Erde eingraben konnte, um mich vor dem Licht zu schützen.
Als ich erwachte, war ich über das Ausmaß meines Durstes nicht schlecht erstaunt. Es war mir ein Rätsel, wie der alte Gott das rituelle Fasten überstanden hatte. Ich konnte nur noch an Menschenblut denken. Aber die Druiden hatten den ganzen Tag gehabt, um mir nachzusetzen. Ich mußte größte Vorsicht walten lassen.
Und ich darbte die ganze Nacht, während der ich durch den Wald eilte, trank nichts bis zum frühen Morgen, als ich auf eine Diebesbande stieß, die mich mit dem Blut eines Übeltäters und neuer Kleidung versorgte.
In diesen Stunden vor der Morgendämmerung wurde mir so manches klar. Ich hatte recht viel über meine Fähigkeiten erfahren und sollte noch mehr erfahren. Und ich war entschlossen, nach Ägypten zu gehen, nicht um der alten Götter und ihrer Anbeter willen, sondern um herauszufinden, was da eigentlich vorging.
In der dritten Nacht meines neuen Lebens suchte ich mein altes Haus in Massilia auf und stellte fest, daß meine Bibliothek, mein Schreibtisch und die Manuskripte noch da waren, und meine treuen Sklaven zeigten sich überglücklich, mich zu sehen. Was bedeuteten mir diese Dinge? Was bedeutete es, daß ich dieses Geschichtswerk geschrieben, daß ich in diesem Bett gelegen hatte?
Ich wußte, daß ich nicht mehr der. Römer Marius sein konnte. Aber ich würde von ihm retten, was zu retten war. Ich schickte meine geliebten Sklaven in die Heimat zurück. Ich schrieb meinem Vater, daß mich eine tückische Krankheit zwänge, den Rest meiner Tage im heißen und trockenen Klima Ägyptens zu verbringen. Ich schickte mein Werk über die Geschichte an Freunde in Rom, die es lesen und veröffentlichen würden. Und dann machte ich mich auf den Weg nach Alexandrien - mit goldgefüllten Taschen, mit meinen alten Reisedokumenten und in Begleitung von zwei strohdummen Sklaven, die sich nie fragten, warum ich eigentlich nur nachts reiste.
Und schon einen Monat nach dem großen Samhainfest durchstreifte ich die dunklen, verwinkelten, nächtlichen Gassen Alexandriens, mit meiner stummen Stimme die alten Götter suchend.
Ich mußte sie finden, und du weißt, warum. Nicht nur wegen der drohenden Gefahr, daß mich der Sonnengott in der Dunkelheit meines Schlafs tagsüber aufspürte oder mich nachts mit seinen verheerenden Feuer besuchte. Ich mußte die alten Götter finden, weil ich es allein unter den Menschen nicht mehr aushielt. Die Last der ganzen Greuel ruhte einzig auf meinen Schultern, und obwohl ich nur Mörder und andere Übeltäter tötete, war mein Gewissen allzu fein ausgebildet, als daß es Selbsttäuschung zugelassen hätte. Ich konnte die Einsicht nicht ertragen, daß ich, Marius, der in seinem Leben soviel Liebe erfahren und genossen hatte, der unbarmherzige Todesbringer war.
9
Alexandrien war keine alte Stadt. Sie war kaum älter als dreihundert Jahre. Aber sie besaß einen großen Hafen und die umfassendsten Bibliotheken im ganzen römischen Reich. Von überall kamen die Gelehrten hierher, um ihr Wissen zu bereichern, und in einem anderen Leben war ich einer von ihnen gewesen und war nun hierher zurückgekehrt.
Hätte mich der alte Gott nicht hierhergeschickt, wäre ich weiter ins Innere Ägyptens vorgedrungen, ›bis auf den tiefsten Grund‹, wie der Gallier gesagt hatte, in dem festen Glauben, daß die Lösung aller Rätsel in den alten Grabmalen zu finden war.
Aber in Alexandrien überfiel mich ein merkwürdiges Gefühl, ich wußte, daß die Götter dort waren. Ich wußte, daß sie meine Schritte lenkten, wenn ich die
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