Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
alten Regimes zu verblassen begannen und die liebliche Musik Mozarts und Haydns den bombastischen Tönen von Beethoven wichen, die nur allzuoft dem Klang meiner imaginären Höllenglocken bemerkenswert ähnlich waren.
Ich hatte, was ich mir wünschte, was ich mir immer gewünscht hatte. Ich hatte sie. Und hin und wieder konnte ich Gabrielle vergessen und auch Nicki und sogar Marius und das leere starre Gesicht von Akascha und die eisige Berührung ihrer Hand oder die Hitze ihres Bluts.
Aber ich hatte mir immer so viele Dinge gewünscht. Was begründete die Lebensdauer, die er in dem Gespräch mit dem Vampir beschrieben hat? Warum haben wir uns so lange gehalten?
Im ganzen neunzehnten Jahrhundert haben die Schriftsteller Europas die Vampire »entdeckt«. In den billigen Schauermärchen machte Lord Ruthven, die Schöpfung Dr. Polidoris, Sir Francis Varney Platz, und später tauchte dann Sheridan Le Fanus herrliche und sinnliche Gräfin Carmilla Karnstein auf, und schließlich der große Affe der Vampire, der zottige Slavengraf Drakula, der es sich, obgleich er sich in eine Fledermaus verwandeln und, wenn er will, dematerialisieren kann, nicht nehmen läßt, nach Art einer Eidechse an den Wänden seines Schlosses herumzukriechen, offenbar aus bloßem Spaß an der Sache. All diese Kreaturen, und noch viele andere wie sie, waren nur dazu da, um den unersättlichen Appetit auf »Schauermärchen und phantastische Geschichten« zu stillen.
Wir waren der elementare Bestandteil dieses Begriffs des neunzehnten Jahrhunderts - aristokratisch zurückhaltend, von unfehlbarer Eleganz und gleichbleibender Gnadenlosigkeit, und wir klammerten uns fest aneinander, in einem Land, das zwar reif war für uns und unsere Art, aber noch davor verschont geblieben war.
Vielleicht war dies genau der richtige Augenblick in der Geschichte, das vollkommene Gleichgewicht von Ungeheuer und Mensch, der Zeitpunkt, an dem dieses »vampirische Liebesabenteuer«, das inmitten der üppigen Farben und Formen des alten Systems in meiner Phantasie geboren worden war, seinen Höhepunkt fand in dem wehenden schwarzen Umhang, dem schwarzen Hut und den schimmernden Locken des kleinen Mädchens, die von seiner lila Schleife bis hinunter zu den Puffärmeln seines hauchdünnen Seidenkleidchens fielen.
Aber was hatte ich Claudia angetan? Wann würde ich dafür bezahlen müssen? Wie lange noch würde sie sich damit zufriedengeben, die geheimnisvolle Kraft zu sein, die Louis und mich so eng miteinander verband, die Muse unserer mondscheinhellen Stunden, unser beider Gegenstand der Verehrung?
War es unabwendbar, daß sie, die in ihrem ganzen Leben nie die Gestalt einer Frau besitzen würde, zum Schlag ausholte gegen den väterlichen Dämon, der sie dazu verdammt hatte, im Körper einer kleinen Porzellanfigur ihr Dasein zu fristen?
Ich hätte auf Marius’ Warnungen hören sollen. Ich hätte mir die Zeit nehmen sollen, für einen Augenblick darüber nachzudenken, als ich im Begriff war, mich auf dieses große und berauschende Experiment einzulassen: aus »dem Geringsten von ihnen« einen Vampir zu machen. Ich hätte erst einmal Atem schöpfen sollen.
Aber es ging mir dabei wie mit dem Geigenspiel für Akascha. Ich wollte es tun. Ich meine, ich wollte sehen, was mit einem so hübschen kleinen Mädchen passierte!
Ach, Lestat, du hast dir alles selbst zuzuschreiben, was mit dir geschehen ist. Du solltest besser nicht sterben. Weil du nämlich in die Hölle kommen könntest .
Aber wieso habe ich aus rein egoistischen Gründen nicht wenigstens ein paar von all den Ratschlägen befolgt? Warum habe ich von niemandem etwas gelernt - Gabrielle, Armand, Marius? Aber eigentlich habe ich ja nie auf irgend jemanden gehört. Aus irgendeinem Grund scheine ich das nicht zu können.
Und nicht einmal jetzt könnte ich behaupten, daß ich die Sache mit Claudia bedaure, daß ich wünschte, sie nie gesehen zu haben, sie nie in den Armen gehalten zu haben, ihr niemals Geheimnisse zugeflüstert zu haben, niemals den Widerhall ihres Gelächters in den düsteren, von Gaslicht erhellten Räumen dieser allzu menschlichen Stadtwohnung vernommen zu haben, in der wir uns zwischen polierten Möbeln und dunklen Ölgemälden und Blumentöpfen aus Messing bewegten, wie es von lebenden Wesen erwartet wurde. Claudia war mein schwarzes Kind, meine Liebe, das Böse von dem Bösen in mir. Claudia hat mir das Herz gebrochen,
Und an einem warmen schwülen Abend im Frühjahr des Jahres 1860 ging sie
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