Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
Grammophon auf. Behutsam legte er die winzige Nadel auf die sich drehende Schallplatte. Aus dem Metalltrichter erscholl, in dünnen und heiser kratzenden Tönen, ein Wiener Walzer.
Ich mußte lachen, als ich sah, wie er ihnen diese hübsche Erfindung als eine Art Opfergabe reichte.
Aber Marius war noch nicht fertig. Er hatte an der Wand eine weiße Leinwand aufgehängt und warf jetzt von einem erhöhten Podium aus, das hinter dem sitzenden Gott und der Göttin stand, bewegliche Bilder von Sterblichen auf die weiße Leinwand. JENE, DIE BEWAHRT WERDEN MÜSSEN starrten stumm auf die flackernden Bilder. Statuen in einem Museum, ihre weiße Haut angestrahlt von elektrischen Scheinwerfern.
Und dann passierte das Wunderbarste von allem. Die zappeligen kleinen Figuren in dem beweglichen Bild begannen zu sprechen. Durch das Krächzen des Grammophonwalzers waren ihre Worte zu hören.
Und während ich noch hinsah, vor Erregung erstarrt, vor Freude erstarrt, dies alles miterleben zu dürfen, befiel mich plötzlich eine große Traurigkeit, eine niederschmetternde Erkenntnis. Daß alles nur ein Traum war. Denn in Wirklichkeit hätten die kleinen Figuren in den beweglichen Bildern unmöglich reden können.
Die Kammer mit all ihren kleinen Wundem darin verlor ihre Substanz. Wurde trüb, verschwamm.
Ah, abscheuliche Unvollkommenheit, abscheulicher kleiner Verrat, daß ich mir das alles nur ausgedacht hatte. Und noch dazu mit echten Stückchen und Teilen - die stummen Filme, die ich selbst in dem kleinen Theater mit dem Namen Glückliche Stunde gesehen hatte, die Grammophone, die ich in der Dunkelheit aus Hunderten Häusern hatte schallen hören.
Und der Wiener Walzer, mit dem mich Armand hatte bezaubern wollen, ah, herzzerreißend, allein der Gedanke.
Warum hatte ich mich nicht ein ganz kleines bißchen klüger betrogen, den Film nicht stumm gelassen, wie er hätte sein müssen, dann hätte ich vielleicht auch weiter daran glauben können, daß es die Wahrheit war.
Aber hier war der letzte Beweis, daß alles errunden war, daß alles nur meiner eigenen kühnen und egoistischen Phantasie entsprungen war: Akascha, meine Geliebte, sprach zu mir!
Akascha stand in der Tür zur Kammer und starrte in den langen Gang zu dem Fahrstuhl, mit dem Marius nach oben zurückgekehrt war, in die Welt über uns. Ihr dichtes schwarzes Haar fiel über ihre weißen Schultern. Ihre kalte weiße Hand winkte mich zu sich. Ihr Mund war rot.
»Lestat!« flüsterte sie. »Komm zu mir.«
Lautlos strömten ihre Gedanken mit denselben Worten aus ihr heraus, die vor vielen, vielen Jahren die alte Vampirkönigin unter Les Innocents zu mir gesprochen hatte:
Auf meinem steinernen Kopfkissen habe ich von der sterblichen Welt da oben geträumt. Ich habe ihre Stimmen, ihre neue Musik gehört, Wiegenlieder in meinem Grab. Ich habe ihre phantastischen Entdeckungen geschaut, und obwohl ich an all dem nicht teilnehmen darf, ersehne ich nichts stärker, als sie furchtlos auf der Straße des Teufels zu durchstreifen.
»Lestat!« flüsterte sie wieder, und ihr steinernes Antlitz wirkte auf tragische Weise belebt. »Komm zu mir!«
»Oh, meine Liebste«, sagte ich mit dem bitteren Geschmack von Erde auf den Lippen, »wenn ich doch nur könnte.«
Lestat de Lioncourt
Im Jahre seiner Auferstehung 1984
Dionysos in San Francisco
1985
1
In der Woche, bevor unser Plattenalbum auf den Markt kam, holten J. sie zum ersten Schlag aus und bedrohten uns über das Telefon.
Die Geheimhaltungsmaßnahmen hinsichtlich der Rockgruppe The Vampire Lestat waren teuer, aber fast unüberwindlich gewesen. Sogar der Verleger meiner Autobiographie hatte dichtgehalten. Und in den langen Monaten, als die Aufnahmen und Videos fertiggestellt wurden, hatte ich in New Orleans nicht einen einzigen von ihnen zu Gesicht bekommen oder herumstreunen gehört.
Aber dann hatten sie irgendwie die Geheimnummer herausgefunden und ihre Drohungen und Beschimpfungen auf dem elektronischen Anrufbeantworter hinterlassen.
»Ausgestoßener. Wir wissen, was du treibst. Wir befehlen dir aufzuhören.« - »Komm raus, wo wir dich sehen können. Wir fordern dich auf herauszukommen.«
Ich hatte meine Band in einem hübschen alten Haus auf einer Plantage nördlich von New Orleans gegen die Außenwelt abgeschottet und goß ihnen den Dom Pérignon in ihre Gläser, während sie ihre Haschischzigaretten rauchten. Wir waren alle ziemlich erschöpft von den Vorbereitungen und sahen ungeduldig unserem ersten
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