Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
mit den Fingern und sah dann die anderen an.
»Ich kann euch jetzt nicht mehr erzählen«, sagte sie. »Es ist fast Morgen, und die Jungen müssen hinuntergehen, unter die Erde. Ich muß ihnen den Weg zeigen.
Morgen abend werden wir uns hier wieder treffen. Das heißt, wenn unsere Königin das zuläßt. Sie ist jetzt nicht in unserer Nähe; ich kann nicht die leiseste Spur ihrer Einflußnahme in irgend jemandes Auge erkennen.
Falls sie weiß, was wir tun, läßt sie es zu. Oder sie ist weit entfernt und kümmert sich nicht um uns, und wir müssen abwarten, bis wir ihre Absichten erfahren.
Morgen werde ich euch erzählen, was wir auf unserer Reise nach Kernet erlebten.
Bis dahin ruht sicher hier im Berg. Ihr alle. Er hat unzählige Jahre lang meine Geheimnisse vor dem neugierigen Blick sterblicher Menschen geschützt. Denkt daran, bis zum Anbruch der Nacht kann uns auch die Königin nichts anhaben.«
Marius erhob sich gleichzeitig mit Maharet. Er ging hinüber ans gegenüberliegende Fenster, während die anderen langsam den Raum verließen. Er schien noch immer Maharets Stimme zu hören. Und was ihn am meisten berührte, waren die Beschwörungen Akaschas und der Haß, den Maharet für sie empfand; denn auch Marius empfand diesen Haß, und mehr denn je hatte er das Gefühl, er hätte diesem Alptraum ein Ende setzen müssen, als er noch die Macht gehabt hatte.
Doch die rothaarige Frau konnte nicht gewollt haben, daß so etwas geschah. Keiner von ihnen, auch er nicht, wollte sterben. Und Maharet hing wohl inbrünstiger am Leben als irgendein sterbliches Wesen, das er je gekannt hatte.
Doch ihre Erzählung schien die Hoffnungslosigkeit des Ganzen zu bestätigen. Was war da in Bewegung gekommen, als die Königin von ihrem Thron aufstand? Was war das für ein Wesen, das Lestat in seinen Klauen hielt? Er hatte keine Vorstellung.
Wir verändern uns, und doch verändern wir uns nicht, dachte er. Wir werden weise, doch sind wir fehlbare Wesen! Wir sind nur menschlich, solange wir leiden; das war das Wunder und der Fluch.
Er sah wieder das lächelnde Gesicht vor sich, das er gesehen hatte, als das Eis aufzutauen begann. War es möglich, daß er immer noch genauso heftig liebte, wie er haßte? Daß ihm in seiner Erniedrigung jegliches klare Denken abhanden gekommen war? Er wußte es wirklich nicht.
Und plötzlich war er müde und sehnte sich nach Schlaf, nach Bequemlichkeit, nach dem sanften sinnlichen Vergnügen, in einem sauberen Bett zu liegen. Sich darauf auszustrecken und das Gesicht in einem Kissen zu begraben, seine Gliedmaßen sich selbst ihre natürlichste und bequemste Lage suchen zu lassen.
Hinter der gläsernen Wand überzog ein weich leuchtendes blaues Licht den östlichen Himmel, doch die Sterne behielten ihre Helligkeit, wenn sie auch winzig und weit entfernt erschienen. Die dunklen Stämme der Mammutbäume waren sichtbar geworden, und wie immer in der Morgendämmerung war ein lieblicher, frischer Duft vom Wald her ins Haus gedrungen.
Tief unten, wo der Hang steil abfiel und eine Lichtung voller Klee sich in den Wald erstreckte, sah Marius Khayman alleine gehen. Seine Hände schienen in der schwachen, bläulichen Dämmerung zu leuchten, und als er sich umdrehte und - hinauf zu Marius - zurückblickte, war sein Gesicht eine augenlose kalkweiße Maske.
Marius bemerkte, wie er selbst Khayman freundschaftlich locker zuwinkte. Khayman erwiderte die Geste und verschwand zwischen den Bäumen.
Dann drehte Marius sich um und sah, was er bereits wußte, daß nur Louis noch bei ihm im Raum war. Louis stand reglos da und sah ihn an wie schon früher; als sähe er einen Wirklichkeit gewordenen Mythos.
Dann stellte er die Frage, die ihn quälte, die Frage, von der er sich nicht befreien konnte, gleichgültig, wie stark Maharets Zauber war. »Du weißt doch, ob Lestat noch am Leben ist oder nicht?« fragte er.
Es klang menschlich schlicht, rührend, obwohl die Stimme sehr zurückhaltend war.
Marius nickte. »Er lebt. Aber das weiß ich nicht auf die Art, wie du glaubst. Nicht durch Fragenstellen oder Empfangen einer Antwort. Nicht durch Anwendung der wunderbaren Fähigkeiten, die uns plagen. Ich weiß es einfach, weil ich es weiß.«
Er lächelte Louis an. Etwas an dessen Art machte Marius glücklich, wenn er auch nicht wußte, was. Er winkte Louis zu sich, und sie trafen sich am Ende des Tisches und verließen zusammen den Raum. Marius legte Louis den Arm um die Schulter, und sie gingen gemeinsam die
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