Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
hartgefrorenen, uralten Glieder unter ihrer weichen, ausgeleierten Wollkleidung. Sie rührte sich nicht. Sie ließ sich umringen, mit hineinziehen. Azim stand wieder aufrecht im Saal. Er gab ihr ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Wortlos lehnte sie ab.
Sie beobachtete, wie er sich blindlings ein Opfer griff, eine junge Frau mit bemalten Augen und schaukelnden, goldenen Ohrringen; er brachte ihr eine klaffende Wunde an ihrem schlanken Hals bei.
Die Menge war nun nicht mehr imstande, klar artikulierte Silben zu singen; ihren Kehlen entwand sich nur noch ein wortloser Schrei.
Mit weitaufgerissenen Augen, als sei er über seine eigene Macht entsetzt, saugte Azim die Frau in einem Zug leer, dann schleuderte er ihren zerfleischten Körper auf die Steinfliesen, wo die Gläubigen sie umringten und flehend ihrem Gott die Hände entgegenstreckten.
Sie wandte sich um; sie ging in die kalte Luft des Innenhofes, mied die Hitze der Feuer. Gestank nach Urin und Abfall. Sie lehnte sich gegen die Mauer, blickte nach oben, dachte an den Berg, beachtete die Gehilfen nicht, die an ihr die Körper frisch Getöteter vorbeizerrten und in die Flammen warfen. Sie dachte an die Pilger, die sie auf dem Pfad unterhalb des Tempels gesehen hatte, den langen Zug, der sich Tag und Nacht über die einsamen Berge schleppte, diesem namenlosen Ort entgegen. Wie viele starben, ohne je diesen Felsen erreicht zu haben? Wie viele starben vor den Toren, auf Einlaß wartend?
Es war verabscheuenswürdig, aber das machte nichts. Es war ein Greuel aus uralter Zeit. Sie wartete. Dann rief Azim sie.
Sie drehte sich um und ging wieder durch das Tor und dann durch ein anderes in ein kleines, erlesen ausgemaltes Vorzimmer, wo er auf einem roten, mit Rubinen eingefaßten Teppich stand und auf sie wartete. Er war von allerlei Schätzen umgeben, Opfergaben aus Gold und Silber; die Musik, träge und angsterfüllt, drang nur noch leise durch. »Liebste«, sagte er. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und küßte sie. Ein heißer Blutstrom ergoß sich in ihren Mund, und einen verzückten Augenblick lang war sie erfüllt vom Gesang und Tanz der Gläubigen. Pulsierende Wärme sterblicher Anbetung, Ergebenheit, Liebe.
Ja, Liebe. Einen Moment lang sah sie Marius. Sie öffnete die Augen und trat zurück. Sie sah kurz die Wände mit ihren aufgemalten Pfauen und Lilien; sie sah die Haufen gleißenden Goldes. Dann sah sie nur noch Azim.
Er war unveränderlich wie seine Leute, unveränderlich wie die Dörfer, aus denen sie gekommen und durch Schnee und Einöden gezogen waren, um dieses schreckliche, sinnlose Ende zu finden. Vor eintausend Jahren hatte Azim seine Herrschaft in diesem Tempel angetreten, den noch niemand lebend verlassen hatte. Seine geschmeidige, goldene Haut, genährt von einem nie versiegenden Strom frischen Opferblutes, war im Lauf der Jahrhunderte kaum blasser geworden, während ihr eigenes Fleisch in nur der Hälfte dieser Zeit alle menschliche Röte eingebüßt hatte. Nur ihre Augen und vielleicht noch ihr dunkelbraunes Haar konnten einen Eindruck von Leben vermitteln. Sie war schön, ja, das wußte sie, aber er war voll quellender Lebenskraft. Böse.
Legendenumwoben herrschte er ohne Vergangenheit oder Zukunft über seine Anhänger, die ihm verfallen waren, und er blieb ihr so unbegreiflich wie je. Sie wollte nicht länger verweilen. Dieser Ort stieß sie heftiger ab, als sie ihn wissen lassen wollte. Sie teilte ihm stumm mit, warum sie hier war; erzählte ihm von den alarmierenden Signalen, die sie gehört hatte. Irgendwo stimmte irgend etwas nicht, etwas änderte sich, etwas, das noch nie zuvor geschehen war! Und sie erzählte ihm auch von dem jungen Bluttrinker, der in Amerika Songs aufnahm, Songs voller Wahrheiten über Den Vater und Die Mutter, deren Namen er kannte.
Sie beobachtete Azim, spürte seine gewaltige Macht, seine Fähigkeit, ihre verborgensten Gedanken zu lesen und ihr gleichzeitig die eigenen Geheimnisse vorzuenthalten.
»Gesegnete Pandora«, sagte er spöttisch. »Was kümmern mich Die Mutter und Der Vater? Was bedeuten sie mir? Was kümmert mich dein geschätzter Marius?
Daß er pausenlos um Hilfe ruft? Das schert mich wenig!«
Sie war verblüfft. Marius rief um Hilfe? Azim lachte.
»Erkläre mir deine Worte«, sagte sie.
Er lachte wieder und wandte ihr den Rücken zu. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Marius hatte sie erschaffen. Alle Welt außer ihr konnte Marius’ Stimme hören. Hatte sie das Echo eines Schreis
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