Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
vermute, es war weniger Neid als vielmehr eine Form von Mißtrauen - daß Gott einen Fehler beging, indem er mit Adam eine zweite Schöpfungsmaschine erschuf, sich selbst so ähnlich. Ich meine, die Engel fanden das physikalische Universum wahrscheinlich schon schlimm genug mit all den sich vervielfachenden Zellen, aber denkende, sprechende Wesen, die wachsen und sich mehren würden? Sie waren wahrscheinlich empört über das ganze Experiment. Und das war ihre Sünde.«
»Sie sagen also, Gott ist kein reiner Geist.«
»Richtig. Gott hat einen Körper. Immer schon. Das Geheimnis des zellteilenden Lebens liegt bei Gott. Und alle lebenden Zellen haben ein winziges Stück von Gottes Geist in sich, Lestat, und das ist das fehlende Mosaiksteinchen in der Frage, was das Leben überhaupt erst zustande kommen läßt und was es vom Nichtleben trennt. Es ist genau wie bei Ihrer vampirischen Genesis. Sie haben uns erzählt, der Geist Amels - eines bösen Wesens - durchströme die Körper aller Vampire… Nun, die Menschen haben auf die gleiche Weise teil am Geist Gottes.«
»Meine Güte, David, Sie sind von Sinnen. Wir sind eine Mutation.«
»Ah, ja, aber Sie existieren in unserem Universum, und Ihre Mutation ist ein Spiegelbild der Mutation, die wir sind. Außerdem, auch andere sind schon auf diese Theorie gestoßen. Gott ist das Feuer, und wir sind alle kleine Flammen, und wenn wir sterben, kehren alle diese kleinen Flammen zurück in das Feuer Gottes. Aber das Wichtige ist, zu erkennen, daß Gott selbst Leib und Seele ist! Absolut.
Die westliche Zivilisation ist auf einer Umkehrung begründet. Aber es ist meine ehrliche Überzeugung, daß wir in unseren alltäglichen Taten die Wahrheit kennen und ehren. Nur wenn wir auf religiöser Ebene sprechen, sagen wir, Gott sei reiner Geist, er sei es immer gewesen und werde es immer sein, und das Fleisch sei böse. Die Wahrheit steht im Buch Genesis, sie ist da. Ich sage Ihnen, was der Urknall war, Lestat. Er geschah, als die Zellen Gottes anfingen, sich zu teilen.«
»Das ist wirklich eine hübsche Theorie, David. War Gott überrascht?«
»Nein, aber die Engel. Es ist mein Ernst. Ich sage Ihnen, was das Abergläubische daran ist: der religiöse Glaube, Gott sei vollkommen. Er ist es offensichtlich nicht.«
»Was für eine Erleichterung«, sagte ich. »Das erklärt so manches.«
»Jetzt lachen Sie über mich. Aber ich kann es Ihnen nicht verdenken. Sie haben trotzdem recht. Es erklärt alles. Gott hat viele Fehler begangen. Viele, viele Fehler. Und sicher weiß Gott selbst das auch! Ich vermute, die Engel versuchten ihn zu warnen. Der Teufel wurde zum Teufel, weil er versuchte, Gott zu warnen. Gott ist die Liebe. Aber ich bin nicht sicher, daß Gott absolut brillant ist.«
Ich bemühte mich, mir das Lachen zu verkneifen, aber es gelang mir nicht völlig. »David, wenn Sie weiter so reden, wird Sie der Blitz erschlagen.«
»Unsinn. Gott will doch, daß wir es herausfinden.«
»Nein. Das kann ich nicht akzeptieren.«
»Sie meinen, den Rest akzeptieren Sie?« Wieder lachte er leise.
»Nein, aber ganz im Ernst. Die Religion ist primitiv in ihren unlogischen Schlußfolgerungen. Stellen Sie sich einen vollkommenen Gott vor, der zuläßt, daß der Teufel ins Dasein tritt. Nein, das war einfach noch nie plausibel.
Der einzige Makel an der Bibel ist die Vorstellung, Gott sei vollkommen. In ihr zeigt sich das Versagen der Vorstellungskraft bei den früheren Gelehrten. Sie ist verantwortlich für jede einzelne der unmöglichen theologischen Fragen nach Gut und Böse, mit denen wir die Jahrhunderte hindurch zu ringen hatten. Aber Gott ist gut, wunderbar gut. Ja, Gott ist die Liebe. Aber keine schöpferische Macht ist vollkommen. Das ist klar.«
»Und der Teufel? Gibt es neue Erkenntnisse über ihn?« Er musterte mich einen Augenblick lang mit einem Hauch von Ungeduld. »Sie sind ein so zynisches Wesen«, flüsterte er.
»Nein, gar nicht«, antwortete ich. »Ich will es wirklich wissen. Ich habe naturgemäß ein spezielles Interesse am Teufel. Ich spreche öfter von ihm als von Gott. Ich kann wirklich nicht begreifen, weshalb die Sterblichen ihn so sehr lieben - ich meine, weshalb sie die Idee des Teufels lieben. Aber sie tun es.«
»Weil sie nicht an ihn glauben«, sagte David. »Weil ein vollkommen böser Teufel noch weniger plausibel ist als ein vollkommener Gott. Stellen Sie sich vor, daß der Teufel nach dieser Theorie in all der Zeit nie etwas dazulernen soll, daß er es
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