Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Glaswände unserer Gefängnisse um lebende Opfer betteln, während sie uns mit Fragen malträtieren und uns Proben von Blut aus den Adern abzapfen. Ah, aber wie will man das mit Lestat machen, der mit einem einzigen entschlossenen Gedanken andere zu Asche verbrennen kann?
Louis hörte mich nicht im hohen Gras vor seinem kleinen Haus. Ich schlüpfte ins Zimmer, ein großer, flüchtiger Schatten, und saß bereits ihm gegenüber auf meiner bevorzugten roten Samt-Bergère - die ich mir vor langer Zeit einmal selbst hergeschafft hatte -, als er aufblickte.
»Ah, du!« sagte er sofort und klappte das Buch zu. Sein Gesicht, ein schmales und von Natur aus fein gezeichnetes Gesicht von vorzüglicher Eleganz trotz seiner offensichtlichen Kraft, war prachtvoll gerötet. Er war schon früh auf die Jagd gegangen, und ich hatte es versäumt. Einen Augenblick lang war ich völlig niedergeschmettert.
Gleichwohl war es ein quälend verlockender Anblick, ihn vom dumpfen Pochen menschlichen Blutes so belebt zu sehen. Ich konnte das Blut auch riechen, und das verlieh seiner Nähe eine wunderliche Dimension. Seine Schönheit hat mich schon immer toll gemacht. Ich glaube, ich idealisiere ihn in Gedanken, wenn ich nicht bei ihm bin, aber wenn ich ihn dann wiedersehe, bin ich überwältigt.
Natürlich war es seine Schönheit, was mich damals in meinen ersten Nächten hier in Louisiana zu ihm hinzog, als das Land noch eine wilde, gesetzlose Kolonie war und er ein tollkühner, betrunkener Dummkopf, der spielte und in den Kneipen Streit vom Zaun brach und überhaupt tat, was er konnte, um seinen Tod herbeizufahren. Nun, er hatte bekommen, was er zu wollen geglaubt hatte -mehr oder minder.
Einen Moment lang begriff ich den Ausdruck des Entsetzens in seinem Gesicht nicht, als er mich anstarrte, und auch nicht, weshalb er aufstand und zu mir herüberkam, sich vorbeugte und mein Gesicht berührte. Dann fiel es mir wieder ein: meine sonnengebräunte Haut.
»Was hast du getan?« flüsterte er. Er kniete nieder und schaute zu mir auf, und seine Hand ruhte leicht auf meiner Schulter. Wundervoll, diese Intimität, aber ich würde es natürlich nicht zugeben. Ich blieb gefaßt in meinem Sessel sitzen. »Das ist nichts«, sagte ich. »Es ist erledigt. Ich war in der Wüste; ich wollte sehen, was passiert…«
»Du wolltest sehen, was passiert?« Er stand auf, trat einen Schritt zurück und funkelte mich an. »Du wolltest dich vernichten, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich habe einen ganzen Tag lang im Licht gelegen. Am Morgen des zweiten muß ich mich dann irgendwie in den Sand eingegraben haben.«
Er starrte mich eine ganze Weile an, als wolle er vor Mißbilligung platzen; dann zog er sich an seinen Schreibtisch zurück, setzte sich für ein so anmutiges Wesen, wie er es war, ein bißchen zu geräuschvoll hin, faltete die Hände über dem geschlossenen Buch und schaute mich böse und wütend an. »Warum hast du das getan?«
»Louis, ich habe dir etwas Wichtigeres zu erzählen«, sagte ich. »Vergiß das alles.« Ich deutete dabei auf mein Gesicht. »Etwas sehr Bemerkenswertes ist geschehen, und ich muß dir die ganze Geschichte erzählen.« Ich stand auf, denn ich konnte nicht mehr an mich halten. Ich begann auf und ab zu gehen und achtete darauf, daß ich nicht über die abscheulichen Müllhaufen stolperte, die überall herumlagen; ein wenig ärgerte mich auch das trübe Kerzenlicht - nicht, weil ich nichts sehen konnte, sondern weil es so schwach und partiell war und ich gern überall Licht habe.
Ich erzählte ihm alles - wie ich diese Kreatur, Raglan James, in Venedig, Hongkong und Miami gesehen hatte, wie er mir in London seine Nachricht geschickt hatte und mir dann nach Paris gefolgt war, so wie ich es vermutet hatte. Und nun würden wir uns morgen nacht in der Nähe des Square treffen. Ich berichtete von den Short stories und erklärte, was sie bedeuteten. Ich beschrieb den eigentümlichen jungen Mann selbst und fügte hinzu, daß er sich nicht in seinem eigenen Körper befinde und daß ich glaubte, er könne einen solchen
Tausch vollziehen.
»Du bist verrückt«, sagte Louis.
»Nichts überstürzen«, sagte ich.
»Du zitierst mir gegenüber die Worte dieses Idioten? Vernichte ihn. Mach Schluß mit ihm. Stöbere ihn gleich heute nacht auf, wenn du kannst, und beseitige ihn.«
»Louis, um der Liebe des Himmels willen …«
»Lestat, diese Kreatur kann dich nach Belieben finden? Das bedeutet, daß er weiß, wo du
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