Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
nachdenklich und sehr traurig. Fast tat es mir weh, ihn anzusehen. Ich hätte ihn gern bei den Schultern gepackt und geschüttelt, aber das hätte ihn nur wütend gemacht.
»Ich liebe dich«, sagte er leise.
Ich war erstaunt.
»Du suchst immer nach einer Möglichkeit zu triumphieren«, fuhr er fort. »Du gibst nie nach. Aber es gibt keinen Weg zum Triumph. Wir sind hier im Fegefeuer, du und ich. Wir können nur dankbar sein, daß es nicht die Hölle ist.«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich. »Hör mal, es ist gleichgültig, was du sagst oder was David gesagt hat. Ich werde mit Raglan James sprechen. Ich will wissen, was dahintersteckt. Nichts wird mich daran hindern.«
»Ah! Also hat David Talbot dich auch vor ihm gewarnt.«
»Suche du dir deine Verbündeten nicht unter meinen Freunden!«
»Lestat, wenn dieser Mensch in meine Nähe kommt und wenn ich glaube, daß mir Gefahr von ihm droht, dann werde ich ihn vernichten. Verstanden?«
»Natürlich habe ich verstanden. Aber dich würde er auch nicht ansprechen. Er hat mich ausgesucht, und zwar aus gutem Grund.«
»Er hat dich ausgesucht, weil du leichtsinnig und ungestüm und eitel bist. Oh, ich sage das nicht, um dich zu verletzen. Wirklich nicht. Du sehnst dich danach, daß man dich sieht und anspricht und versteht, daß du in Schwierigkeiten kommst und alles aufrührst und dann siehst, ob es nicht überkocht und Gott herabsteigt und dich beim Schöpfe packt. Nun, aber es gibt keinen Gott. Ebensogut könntest du selbst Gott sein.«
»Du und David… das gleiche Lied, die gleichen Ermahnungen - auch wenn er behauptet, Gott gesehen zu haben, und du bestreitest, daß Er existiert.«
»David hat Gott gesehen?« fragte er respektvoll.
»Nicht wirklich«, murmelte ich mit wegwerfender Gebärde. »Aber ihr scheltet beide auf die gleiche Weise. Und Marius auch.«
»Ja, natürlich, du suchst dir diejenigen aus, die dich schelten. Das hast du immer getan, genauso wie du dir diejenigen aussuchst, die sich gegen dich wenden und dir das Messer ins Herz stoßen.«
Er meinte Claudia, aber er brachte es nicht über sich, ihren Namen auszusprechen. Ich wußte, ich könnte ihn verletzen, indem ich ihn aussprach, ihm den Namen wie einen Fluch ins Gesicht schleuderte. Ich wollte sagen: Du hattest die Hand dabei im Spiel! Du warst dabei, als ich sie machte, und du warst dabei, als sie das Messer hob!
»Ich will nichts mehr hören!« sagte ich. »Du wirst nicht aufhören, das Lied der Beschränkungen zu singen, all die langen, öden Jahre deines Daseins auf der Erde hindurch, wie? Nun, aber ich bin nicht Gott. Und ich bin auch nicht der Teufel aus der Hölle, auch wenn ich es manchmal zu sein vorgebe. Ich bin nicht der listige, verschlagene Jago. Ich schmiede keine grausig-bösen Ränke. Und ich kann weder meine Neugier noch meinen Mut ersticken. Jawohl, ich will wissen, ob dieser Mann es wirklich kann. Ich will wissen, was passieren wird. Und ich werde nicht aufgeben.«
»Und du wirst das Lied vom Sieg in alle Ewigkeit singen, obwohl es nichts zu gewinnen gibt.«
»Ah, aber es gibt etwas. Es muß etwas geben.«
»Nein. Je mehr wir wissen, desto besser wissen wir, daß es keinen Sieg gibt. Können wir uns da nicht auf die Natur zurückziehen und tun, was wir tun müssen, um es zu ertragen, und nicht mehr?«
»Das ist die jämmerlichste Definition von Natur, die ich je gehört habe. Sieh sie dir einmal genau an - nicht in der Dichtung, sondern in der Welt da draußen. Was siehst du in der Natur? Was hat die Spinnen erschaffen, die unter den feuchten Dielenbrettern herumkriechen, was die Motten mit ihren bunten Flügeln, die im Dunkeln aussehen wie große Blumen des Bösen? Und der Haifisch im Meer, warum existiert er?« Ich ging zu ihm hin, legte die Hände flach auf seinen Schreibtisch und schaute ihm ins Gesicht. »Ich war so sicher, daß du es verstehen würdest. Und übrigens: Ich wurde nicht als Ungeheuer geboren! Ich wurde als sterbliches Kind geboren, genauso wie du. Stärker als du! Mit mehr Lebenswillen als du! Es war grausam von dir, so etwas zu sagen.«
»Ich weiß. Es war unrecht. Manchmal jagst du mir solche Angst ein, daß ich mit Stöcken und Steinen nach dir werfe. Es ist töricht. Ich bin froh, dich zu sehen, aber mir graut davor, es zuzugeben. Mich schaudert bei dem Gedanken, du könntest tatsächlich versucht haben, deinem Dasein in der Wüste ein Ende zu machen! Ich kann den Gedanken an eine Existenz ohne dich nicht mehr ertragen! Du machst
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