Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Raglan James vor, sich mit mir zu treffen. So ungeduldig ich diesem Treffen auch entgegenfieberte, mir war es doch so ganz recht, denn ich wollte erst Louis suchen. Aber zunächst genoß ich den sterblichen Komfort einer heißen Dusche und zog dann einen frischen schwarzen Samtanzug an, sehr ordentlich und schlicht, ganz wie die Sachen, die ich in Miami getragen hatte, und ein Paar neue schwarze Stiefel. Und ohne mich um meine allgemeine Müdigkeit zu kümmern - wäre ich noch in Europa gewesen, hätte ich inzwischen schlafend unter der Erde gelegen -, zog ich los und spazierte wie ein Sterblicher durch die Stadt.
Aus Gründen, deren ich mich nicht allzu sicher war, ging ich bei der alten Adresse in der Rue Royale vorbei, wo Claudia, Louis und ich einmal gewohnt hatten. Tatsächlich tat ich das ziemlich oft, ohne daß ich mir gestattet hätte, darüber nachzudenken, bis ich halb da war.
Unser Zirkel hatte über fünfzig Jahre in diesem hübschen Apartment unterm Dach überstanden. Sicher sollte dieser Faktor berücksichtigt werden, wenn ich - durch mich selbst oder durch andere -wegen meiner Fehler verurteilt werde. Louis und Claudia waren beide von mir – und - auch für mich, das gebe ich zu - erschaffen worden. Gleichwohl hatten wir ein wundersam strahlendes und befriedigendes Dasein geführt, bis Claudia entschieden hatte, daß ich für meine Schöpfungen mit dem Leben bezahlen sollte.
Die Räume selbst waren vollgestopft mit allem nur vorstellbaren Prunk und Luxus, den die Zeit zu bieten hatte. Wir hatten eine Kutsche und ein Pferdegespann in einem nahen Stall stehen gehabt, und Bedienstete hatten hinter dem Haus auf der anderen Seite des Gartens gewohnt. Aber die alten Backsteinhäuser waren heute ein wenig verblichen und vernachlässigt; das Apartment war in letzter Zeit nicht mehr bewohnt- außer vielleicht, werweiß, von Geistern-, und der Laden im Erdgeschoß war an einen Buchhändler vermietet, der sich nie die Mühe machte, die Bücher in seinem Schaufenster und seinen Regalen abzustauben. Hin und wieder beschaffte er mir Bücher - Werke über die Natur des Bösen von dem Historiker Jeffrey Burton Russell oder die wunderbaren philosophischen Schriften von Mircea Eliade, aber auch alte Ausgaben der Romane, die ich liebte.
Der alte Mann war übrigens da und las, und ich beobachtete ihn eine Weile durch die Scheibe. Wie waren doch die Bürger von New Orleans so anders als der Rest der amerikanischen Welt. Profit bedeutete diesem alten, grauhaarigen Wesen überhaupt nichts.
Ich trat zurück und schaute hinauf zu den gußeisernen Geländern. Ich dachte an die beunruhigenden Träume - die Öllampe, ihre Stimme. Warum suchte sie mich plötzlich um so viel unerbittlicher heim als je zuvor?
Wenn ich die Augen schloß, konnte ich sie wieder hören, wie sie mit mir sprach, aber die Substanz ihrer Worte war fort. Unversehens dachte ich wieder einmal zurück an ihr Leben und ihren Tod.
Spurlos verschwunden war die kleine Hütte, in der ich sie zum erstenmal in Louis’ Armen gesehen hatte. Es war ein Pesthaus gewesen, und nur ein Vampir hätte gewagt, dort einzudringen. Kein Dieb hatte gewagt, auch nur die goldene Kette vom Hals ihrer Mutter zu stehlen. Und wie schämte sich Louis, weil er sich ein kleines Mädchen zum Opfer auserkoren hatte. Aber ich hatte es verstanden. Auch von dem alten Spital, in das man sie nachher gebracht hatte, war keine Spur mehr vorhanden und genausowenig von der engen, schlammigen Straße, durch die ich gegangen war, mit dem warmen, sterblichen Bündel in den Armen, während Louis hinter mir herhastete und mich anflehte, ihm zu sagen, was ich vorhätte.
Ein kalter Windstoß schreckte mich plötzlich auf.
Ich hörte gedämpft die ausgelassene Musik aus den Kneipen an der Rue Bourbon, nur einen Block weiter; und vor der Kathedrale gingen Leute auf und ab - und eine Frau in der Nähe lachte. Eine Autohupe gellte durch die Dunkelheit. Das dünne elektronische Trillern eines modernen Telefons.
In der Buchhandlung spielte der alte Mann am Radio; er drehte den Knopf von Dixieland zu klassischer Musik und dann zu einer traurigen Stimme, die von einem englischen Komponisten vertonte Gedichte sang…
Wieso war ich zu diesem alten Haus gekommen, das verloren und gleichgültig dastand wie ein Grabstein, an dem Daten und Lettern verwittert waren?
Ich wollte jetzt keine weitere Verzögerung mehr.
Ich hatte in meiner wahnsinnigen Aufregung mit dem gespielt, was soeben in Paris passiert war,
Weitere Kostenlose Bücher