Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
und jetzt wandte ich mich stadtauswärts, um Louis zu suchen und ihm das alles darzulegen.
Wiederum zog ich es vor zu gehen. Ich zog es vor, die Erde zu fühlen, sie mit meinen Füßen zu messen.
Zu unserer Zeit - am Ende des achtzehnten Jahrhunderts - existierte der Vorort eigentlich noch gar nicht. Flußauf kam man aufs Land; es gab noch Plantagen, die Straßen waren schmal und unwegsam, denn sie waren nur mit Muschelschalen bestreut.
Später, im neunzehnten Jahrhundert, als unser kleiner Zirkel vernichtet und ich verletzt und gebrochen nach Paris gegangen war, um Claudia und Louis zu suchen, da war die Vorstadt mit all ihren kleinen Ortschaften mit der Großstadt verschmolzen, und viele hübsche Holzhäuser im viktorianischen Stil wurden erbaut.
Einige dieser schmucken Holzgebäude sind riesig und auf ihre eigene, verschachtelte Art ebenso prächtig wie die großen, im renaissancegriechischen Stil gehaltenen Vorkriegshäuser im Garden District, die mich immer an Tempel erinnern oder an die imposanten Stadthäuser im French Quarter selbst.
Aber ein großer Teil der Vorstadt, die kleinen Holzhütten genauso wie die großen Villen, hat sich den ländlichen Aspekt in meinen Augen immer noch bewahrt: Riesige Eichen und Magnolien sprießen allenthalben und überragen die kleinen Dächer; in so vielen Straßen gibt es keine Gehwege, und die Gassen dort sind nicht mehr als Gräben voll blühender Wildblumen trotz der winterlichen Kälte.
Selbst die kleinen Geschäftsstraßen - hier und da eine unverhoffte Strecke mit Ladenvorbauten - erinnern nicht an das French Quarter mit seinen Steinfassaden und der Kultiviertheit der alten Welt, sondern eher an die heimeligen »main streets« amerikanischer Landstädtchen.
Es ist eine ausgezeichnete Gegend für Abendspaziergänge; man hört die Vögel singen, wie man sie im Vieux Carré niemals hören wird; und die Dämmerung liegt eine Ewigkeit lang auf den Dächern der Lagerschuppen am endlos gewundenen Fluß, der zwischen den mächtigen, schweren Asten der Bäume hindurchschimmert. Man stößt auf prächtige Landhäuser mit weitläufigen Galerien und schnörkeligen Verzierungen, Häuser mit Türmchen und Giebelchen und eingezäunten Dachterrassen. Große hölzerne Verandaschaukeln schwingen hinter frischgestrichenen Holzgeländern. Weiße Lattenzäune. Breite Alleen und saubere, kurzgemähte Rasenflächen.
Die kleinen Cottages zeigen sich in endloser Vielfalt; manche sind, der jeweiligen Mode entsprechend, in dunkel leuchtenden Farben angestrichen, andere, stärker heruntergekommen, aber nicht weniger schön, haben den entzückenden Grauton von Treibholz, ein Zustand, in den ein Haus in dieser tropischen Gegend leicht geraten kann.
Hier und da findet man ein Stück Straße, das so überwuchert ist, daß man kaum glauben kann, daß man sich immer noch in einer Großstadt befindet. Wilde Jalapen und blauer Bleiwurz verhüllen die Zäune, die die Grundstücksgrenzen markieren, und die Äste der Eiche reichen so tief, daß der Passant den Kopf einziehen muß. Selbst im kältesten Winter ist New Orleans immer grün. Der Frost vermag die Kamelien nicht zu töten, auch wenn er sie manchmal lädiert. Wilder gelber Carolinajasmin und purpurne Bougainvilleen bedecken Zäune und Mauern.
An einem solchen Stück sanft belaubter Dunkelheit, hinter einer prächtigen Reihe großer Magnolienbäume, hat Louis sein geheimes Zuhause.
Die alte viktorianische Villa hinter dem rostigen Tor war unbewohnt und die gelbe Farbe fast vollständig abgeblättert. Nur ab und zu durchstreifte Louis das Haus mit einer Kerze in der Hand. Seine eigentliche Behausung war ein Häuschen im Garten - bedeckt von einem formlosen Berg aus verfilztem, rosarotem Königinnenkranz und vollgestopft mit Büchern und den verschiedensten Gegenständen, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Die Fenster waren so versteckt, daß sie von der Straße aus unsichtbar waren. Ja, es ist zweifelhaft, daß überhaupt jemand von der Existenz dieses Häuschens wußte. Die Nachbarn konnten es nicht sehen, weil es hinter hohen Ziegelmauern, dichten alten Bäumen und wild wucherndem Oleander ringsum verborgen war. Und es führte auch kein richtiger Weg durch das hohe Gras darauf zu.
Als ich kam, standen alle Fenster und Türen seiner wenigen, einfachen Zimmer offen. Er saß an seinem Schreibtisch und las im Licht einer einzelnen Kerze.
Eine ganze Weile beobachtete ich ihn heimlich. Ich tat das zu gern. Oft folgte ich ihm,
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