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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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die ganze Geschichte.
    James war jetzt viel entspannter als in New Orleans. Er war vom Scheitel bis zur Sohle der englische Gentleman, was dem großen, jugendlichen Körper zu einem machtvollen Vorteil gereichte. Er trug einen grauen Pullover, der sich hinreißend straff über seine breite Brust spannte, und eine dunkle Hose.
    Silberne Ringe steckten an seinen Fingern. Und am Handgelenk trug er eine billige Armbanduhr. An diese Gegenstände konnte ich mich nicht erinnern. Er musterte mich mit einem leisen Funkeln in den Augen, das sehr viel leichter zu ertragen war als dieses grausige, blitzende Lächeln. Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden, von diesem Körper, der vielleicht bald der meine sein würde.
    Ich roch natürlich das Blut in diesem Körper, und dies entfachte eine sacht glühende Leidenschaft in mir. Je länger ich ihn ansah, desto mehr fragte ich mich, wie es sein würde, sein Blut zu trinken und die Angelegenheit damit hier und jetzt zu erledigen. Würde er wohl versuchen, aus seinem Körper zu entkommen und mich mit einer leeren, atmenden Hülse zurückzulassen?
    Ich schaute in seine Augen und dachte: Zauberer, und eine ungewöhnliche, ungewohnte Erregung vertrieb auf der Stelle den gewöhnlichen Hunger. Aber ich bin nicht sicher, daß ich wirklich glaubte, er könne es. Ich dachte mir, daß der Abend auch in einem schmackhaften Mahl enden könne, und weiter nichts.
    Ich formulierte meine Frage klarer. »Wie haben Sie diesen Körper gefunden? Wie haben Sie die Seele dazu gebracht, in den Ihren zu fahren?«
    »Ich habe ein solches Exemplar gesucht - einen Mann, der durch einen psychischen Schock aller Willens- und Verstandeskraft beraubt ist, aber gesund an Geist und Gliedern. Telepathie ist in diesen Dingen überaus hilfreich, denn nur ein Telepath hätte die Überreste der Intelligenz, die noch in ihm vergraben waren, erreichen können. Ich mußte ihn sozusagen in den tiefsten Schichten des Unbewußten davon überzeugen, daß ich gekommen sei, ihm zu helfen; ich wisse, daß er ein guter Mensch sei, und ich sei auf seiner Seite. Und als ich diesen rudimentären Kern erreicht hatte, war es ziemlich leicht, seine Erinnerungen zu plündern und ihn gefügig zu machen.« Er zuckte die Achseln. »Der arme Kerl. Seine Reaktionen waren von Aberglauben geprägt. Ich vermute, am Ende hielt er mich für seinen Schutzengel.«
    »Und Sie haben ihn aus seinem Körper gelockt?«
    »Ja, mit einer Reihe von bizarren und ziemlich blumigen Vorschlägen - genau das habe ich getan. Wiederum: Telepathie ist ein wunderbarer Verbündeter. Eigentlich muß man übersinnliche Fähigkeiten besitzen, wenn man andere derart manipulieren will. Beim erstenmal stieg er vielleicht einen halben Meter hoch, und bamm! fuhr er wieder zurück in sein Fleisch. Mehr reflexhaft als willentlich. Aber ich war geduldig, oh, sehr geduldig. Und als ich ihn schließlich für ein paar Sekunden herausgelockt hatte, genügte es mir, um hineinzuschlüpfen und meine intensive Energie sogleich darauf zu konzentrieren, ihn in das hineinzustopfen, was von meinem alten Ich übrig war.«
    »Wie hübsch Sie das ausdrücken.«
    »Nun, wir sind Leib und Seele, wissen Sie«, sagte er mit friedfertigem Lächeln. »Aber warum das alles jetzt bis ins letzte durchkauen? Sie wissen, wie es ist, den eigenen Körper zu verlassen. Für Sie wird es nicht weiter schwierig sein.«
    »Sie könnten überrascht sein. Was ist mit ihm passiert, als er in Ihrem Körper war? Begriff er, was geschehen war?«
    »Oberhaupt nicht. Sie müssen bedenken, der Mann war psychisch zutiefst verkrüppelt. Außerdem war er natürlich ein ignoranter Dummkopf.«
    »Und Sie haben ihm keinen Augenblick Zeit gelassen, nicht wahr? Sie haben ihn getötet.«
    »Monsieur de Lioncourt, was ich getan habe, war eine Gnade für ihn. Wie schrecklich, ihn in diesem Körper zurückzulassen, so verwirrt, wie er war. Sie müssen begreifen, daß er sich nie erholt hätte, ganz gleich, in welchem Körper er wohnte. Er hatte seine ganze Familie ermordet. Sogar das Baby in der Wiege.«
    »Hatten Sie dabei die Hand im Spiel?«
    »Was für eine schlechte Meinung Sie von mir haben! Nicht im geringsten. Ich habe in den Kliniken auf ein solches Exemplar gelauert. Ich wußte, es würde eines kommen. Aber was sollen diese letzten Fragen? Hat David Talbot Ihnen denn nicht erzählt, daß es in den Akten der Talamasca zahlreiche dokumentierte Fälle von Körpertausch gibt?«
    Nein, das hatte David mir nicht erzählt.

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