Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
langer Zeit erklärt, dass ein Heiliger so sein muss.«
»Ich verstehe Euch jetzt nicht, Herr. Ich bin kein Heiliger, und ein Tor? Das ja, aber nur, weil ich Euren Worten entnehme, dass dies eine gewisse Weisheit einschließt, und weise will ich sein, denn Ihr rühmt die Weisheit.«
»Ich meine, dass du einfältig erscheinst, und aus dieser Einfalt heraus erfasst du intuitiv sehr vieles. Ich bin einsam. O ja, ich bin einsam, und einsam genug, um über meinen Kummer zu sprechen, wenn schon über sonst nichts. Aber wer wollte jemanden, der so jung ist wie du, mit meinem Kummer belasten? Amadeo, was glaubst du, wie alt ich bin? Benutze deine Einfalt und schätze mein Alter.«
»Ihr seid alterslos, Herr. Ihr esst und trinkt nicht, noch hat die Zeit Einfluss auf Euer Äußeres. Ihr braucht kein Wasser, um Euch zu reinigen. Alle naturgegebenen Dinge gleiten an Euch ab. Herr, wir alle wissen das. Ihr seid rein und weiß und vollkommen an sich.« Er schüttelte den Kopf. Ich hatte ihn offensichtlich betrübt, obwohl ich eigentlich das Gegenteil erreichen wollte.
»Ich habe es schon getan«, flüsterte er.
»Was, Herr, was habt Ihr getan?«
»Dich mir zu nahe gebracht, Amadeo, denn nun -« Er unterbrach sich. Er runzelte die Stirn, und sein Gesicht trug einen so verletzlichen und erstaunten Ausdruck, dass es mich schmerzte. »Ach, das sind doch nur selbstsüchtige Illusionen! Ich könnte dich, mit einem Haufen Gold versehen, irgendwo in einer weit entfernten Stadt unterbringen, wo -«
»Herr, tötet mich! Tötet mich, bevor Ihr das tut, oder versichert Euch, dass diese Stadt jenseits der uns bekannten Welt liegt, denn ich würde zurückkommen! Ich würde den letzten Dukaten Eures Goldes verbrauchen, um wieder hierher zurückzureisen und an Eure Tür zu hämmern.«
Er sah zum Erbarmen aus, menschlicher als ich ihn je gesehen hatte, schmerzbewegt und zitternd, als er den Blick ins Nichts richtete, in den endlosen, finsteren Graben, der uns voneinander trennte. Ich hängte mich an seine Schultern und küsste ihn. Eine intensivere, viel männlichere Intimität haftete diesem Kuss an, bedingt durch meinen barbarisch-plumpen Akt ein paar Stunden zuvor. »Nein, wir haben keine Zeit für solche Tröstungen«, sagte er. »Ich muss jetzt gehen. Die Pflicht ruft. Uralte Dinge rufen mich, Dinge, die schon seit langer Zeit eine schwere Bürde für mich sind. Ich bin so müde …«
»Geht nicht heute Nacht. Wenn der Morgen kommt, nehmt mich mit in Euer Versteck, in dem Ihr Euch vor der Sonne verbergt. Es ist doch die Sonne, vor der Ihr Euch verbergen müsst, nicht wahr, Herr? Ihr, der Ihr das blaue Himmelzelt und Phoebus’ Strahlen glanzvoller malen könntet als jeder, der es mit eigenen Augen sehen kann, Ihr seht es nie-«
»Hör auf«, bat er und presste meine Hand, die er umklammert hielt. »Keine Küsse mehr und keine Diskussionen, tu, was ich dir sage.« Er atmete tief ein und zog ein Taschentuch aus seinem Wams. Und zum ersten Mal, seit ich bei ihm lebte, sah ich, dass er sich Stirn und Oberlippe trocken tupfte. Das Tuch färbte sich mit einem schwachen Rot. Er betrachtete es.
»Ich möchte dir etwas zeigen, ehe ich fort muss«, sagte er. »Zieh dich an, schnell. Komm, ich helfe dir.«
In kürzester Zeit hatte ich die entsprechende Kleidung für eine kühle Winternacht übergestreift. Er legte mir noch ein schwarzes Cape um die Schultern, reichte mir ein Paar mit Fell besetzte Handschuhe und setzte mir ein schwarzes Samtbarett auf. Er wählte schwarze Lederstiefel, in denen er mich sonst nie hatte sehen wollen. Er fand die Fußknöchel von uns Jungen schön, deshalb sah er Stiefel nicht besonders gern an uns, obwohl er keine Einwände hatte, dass wir sie tagsüber trugen, wenn er es nicht bemerkte.
Er war so unglücklich und betrübt, und sein Gesicht war, trotz seiner farblosen Reinheit, so durchdrungen davon, dass ich ihn einfach küssen und umarmen musste, weil ich spüren wollte, wie sich seine Lippen teilten, wie sein Mund sich auf den meinen presste.
Ich schloss die Augen. Seine Hand legte sich über mein Gesicht und meine Augen.
Ein heftiger Lärm umgab mich plötzlich, als ob Türflügel schlügen und Splitter der zerschmetterten Tür umherflögen, auch schienen Vorhänge und Draperien sich knatternd zu bauschen.
Kalte Luft umfing mich. Er setzte mich ab, blind, ich merkte nur, dass meine Füße auf dem Kai standen, denn ich konnte hören, wie das Wasser des Kanals mit leisem Klatschen an den Steinen leckte,
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