Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
das sichere Gefühl, dass das ihre Absicht gewesen war. Und wenn es Absicht war, ging es ihr vielleicht um ihre eigene geistige Sicherheit, was ich nur gutheißen konnte.
Nachdem ich mich von dem reizenden Anblick losgerissen hatte - Merrick völlig weggetreten, ohne Rücksicht darauf, was die anderen Mitglieder von ihr denken mochten -, nahm ich meine Suche nach Louis wieder auf und durchstöberte erfolglos die Stadt von einem Ende bis zum anderen. Die Stunden vor dem Morgengrauen verbrachte ich in der verdunkelten Kapelle, wo ich vor dem schlummernden Lestat unruhig hin und her schritt und ihm erläuterte, dass Merrick untergetaucht war und Louis verschwunden zu sein schien. Endlich ließ ich mich auf den kalten Marmorplatten nieder, wie schon in der Nacht zuvor.
»Ich wüsste es doch, oder nicht?«, verlangte ich von meinem schlafenden Meister zu wissen. »Wenn Louis seinem Leben ein Ende bereitet hätte, wüsste ich es, nicht wahr? Ich würde es doch irgendwie fühlen? Wenn es gestern Morgen geschehe n wäre, hätte ich es gespürt, noch ehe sich meine Augen schlossen.« Lestat antwortete nicht, und nichts an seiner Haltung oder seinem Gesichtsausdruck ließ erwarten, dass er je antworten würde. Ich kam mir vor, als spräche ich zu einer der Heiligenstatuen. Als die nächste Nacht nicht anders verlief, war ich mit meinen Nerven fast am Ende.
Was Merrick tagsüber getrieben hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, aber nun befand sie sich wieder in der Bibliothek, diesmal allein. Abermals betrunken, flegelte sie sich in einen Sessel. Sie trug eines ihrer schicken Kostüme, dieses Mal ein leuchtend rotes. Während ich sie aus sicherer Entfernung beobachtete, trat eines der Mitglieder in den Raum, ein alter Mann, den ich von früher kannte und sehr gern mochte. Er deckte Merrick mit einer weißen Wolldecke zu, die schön weich zu sein schien. Ich machte mich davon, damit mich keiner entdeckte.
Auf der Suche nach Louis durchstreifte ich die von ihm stets bevorzugten Viertel der Stadt und verfluchte mich währenddessen, weil ich aus Respekt vor ihm nie seine Gedanken gelesen, sondern seine Privatsphäre so sehr respektiert hatte, dass ich nie geübt hatte, seinen jeweiligen Aufenthaltsort telepathisch auszuforschen. Und ich verfluchte mich, weil ich ihn nicht hatte versprechen lassen, mich ganz bestimmt noch einmal zu einem festen Zeitpunkt in der Rue Royale zu treffen. Schließlich brach die dritte Nacht an.
Merrick hatte ich aufgegeben. Sie tat sowieso nichts anderes, als sich - so typisch für sie - bis zur Bewusstlosigkeit mit Rum voll laufen zu lassen. Also begab ich mich direkt in unsere Wohnung, denn ich wollte eine Nachricht für Louis schreiben, falls er dort vorbeischaute und ich nicht da war.
Ich fühlte mich schrecklich elend. Es schien mir inzwischen fast schon wahrscheinlich, dass Louis nicht mehr in irdischer Gestalt existierte. Es schien mir ganz logisch, dass er sich, seinem Wunsch getreu, von der Morgensonne hatte verbrennen lassen und dass ich Worte schrieb, die er nicht mehr lesen würde. Trotzdem setzte ich mich im hinteren Salon an Lestats eleganten Schreibtisch und schrieb hastig:
»Du musst mit mir reden. Du musst mich mit dir sprechen lassen. Wenn du es nicht tust, ist das sehr unfair. Ich bin deinetwegen sehr beunruhigt. L., erinnere dich, dass ich tat, was du von mir verlangtest. Ich habe mich kooperativ gezeigt. Natürlich hatte ich meine Gründe, das gebe ich offen zu. Sie fehlte mir so sehr. Mein Herz brach ihretwegen. Aber du musst mich wissen lassen, wie es bei dir aussieht.«
Ich hatte kaum meine Initiale »D« niedergeschrieben und hob den Blick, da sah ich Louis in der Tür zum Flur stehen. Heil und gesund, sein lockiges Haar ordentlich gekämmt, stand er da und betrachtete mich forschend, und freudig erschrocken lehnte ich mich zurück und stieß einen Seufzer aus. »Nun, sieh da, und ich bin auf der Suche nach dir wie ein Verrückter herumgerannt«, sagte ich. Ich begutachtete seinen hübschen grauen Samtanzug und die dunkelviolette Krawatte. Erstaunt bemerkte ich die edelsteingeschmückten Ringe an seinen Fingern. »Warum hast du dich so herausgeputzt?«, fragte ich. »Sprich mit mir, Mann. Ich bin kurz davor, den Verstand zu verlieren.« Er schüttelte den Kopf und machte mit seiner langen, schlanken Hand eine Geste, die mich schweigen hieß. Er setzte sich auf die Couch an der Wand mir gegenüber und fixierte mich. »Ich habe dich noch nie so schick aufgemacht
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