Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
einem hat, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, dementsprechend zur Tat zu schreiten. Was hatte ich ihr denn zu bieten außer einem ganzen Sack voll kleinerer, unvermeidlicher körperlicher Beschwerden? Damals träumte ich noch nicht von Körperdieben, die mich mit dem Äußeren eines jungen Mannes beglücken würden.
Aber ich muss gestehen, dass ich, als ich mich Jahre später wirklich im Besitz eines solchen Körpers fand, durchaus an Merrick dachte. Oh, natürlich dachte ich an Merrick. Aber zu dem Zeitpunkt war ich in ein übernatürliches Wesen verliebt, in unseren unvergleichlichen Lestat, und er schlug mich selbst gegenüber der Erinnerung an Merricks Charme mit Blindheit. Schluss mit diesem verfluchten Thema! Ja, ich begehrte sie, aber meine Aufgabe ist es jetzt, zu der Geschichte der Frau, die ich heute kenne, zurückzukehren. Merrick, das tapfere, brillante Mitglied der Talamasca - von ihr muss ich berichten: Lange bevor Computer allgemein genutzt wurden, bediente sich Merrick ihrer für ihre schriftlichen Arbeiten, und bald schon hörte man sie mit fantastischer Geschwindigkeit bis spät in die Nacht auf der Tastatur herumhämmern. Sie schrieb Hunderte von Übersetzungen und Artikeln für unsere Mitglieder, und unter einem Pseudonym auch viele für die Außenwelt. Natürlich teilen wir all dieses Wissen nur sehr vorsichtig mit der Außenwelt. Wir sehen unseren Zweck nicht darin, dass man von uns Notiz nimmt. Aber es gibt Dinge, die wir unserer Ansicht nach nicht für uns behalten sollten. Wir hätten auch nie auf diesem Pseudonym bestanden, aber Merrick war, was ihre Identität anging, genauso verschwiegen wie schon als Kind. Derweil zeigte sie an den Mayfairs aus dem »feinen« Stadtteil von New Orleans wenig persönliches Interesse und machte sich kaum die Mühe, die wenigen ihr von uns empfohlenen Akten zu lesen. Sie hatte sie nie wirklich als ihre Verwandten betrachtet, gleichgültig, wie sie über »Onkel Julien« gedacht haben mochte, der in dem Traum der Großen Nananne vorgekommen war. Und außerdem: Welche »Fähigkeiten« man auch bei jenen Mayfairs wahrnehmen könnte, an »Ritualzaubern« haben sie heutzutage so gut wie kein Interesse, und das war Merricks erwähltes Spezialgebiet, Natürlich war von Merricks Besitztümern nie etwas verkauft worden Es gab keinen Grund dafür. Es wäre völlig absurd gewesen. Die Talamasca ist so reich, dass die Ausgaben für eine einzelne Person wie Merrick wortwörtlich unbedeutend sind. Außerdem widmete sich Merrick, sogar schon in ihrer frühen Jugend, mit ganzem Herzen den Projekten des Ordens und arbeitete freiwillig in den Archiven, um Akten auf den neuesten Stand zu bringen, Übersetzungen anzufertigen und diverse Gegenstände einzuordnen und zu beschriften, die denen ihrer eigenen olmekischen Kunstschätze ähnelten.
Wenn also ein Mitglied der Talamasca sich sein Fortkommen verdiente, dann war es Merrick, und das in einem Ausmaß, das uns fast beschämte. Deshalb war es unwahrscheinlich, dass ihr jemand einen Einkaufstrip nach New York verweigerte. Und wenn sie ausgerechnet einen schwarzen Rolls Royce als ihr persönliches Lieblingsfahrzeug wählte und schon bald eine ganze Sammlung davon rund um den Globus stationiert hatte, hielt das niemand für einen idiotischen Einfall.
Merrick war fast fünfundzwanzig, als sie schließlich Aaron wegen einer Bestandsaufnahme der okkulten Gegenstände anging, die sie zehn Jahre zuvor dem Orden übergeben hatte. Ich erinnere mich so gut, weil ich noch Aarons Brief vor mir sehe. »Nie hat sie das mindeste Interesse daran gezeigt«, schrieb er:
» … und du weißt, wie sehr mich das bekümmerte. Selbst als sie ihre Familiengeschichte schrieb und an diverse Gelehrte schickte, rührte sie nicht an dieses okkulte Erbe. Aber heute Nachmittag vertraute sie mir an, dass sie mehrere ›wichtige‹ Träume über ihre Kindheit gehabt habe und dass sie ins Haus der Großen Nananne zurückkehren müsse. Zusammen mit unserem Fahrer begaben wir uns zu dem alten Viertel, das einen recht betrüblichen Anblick bot.
Der Stadtteil ist noch weiter heruntergekommen, als Merrick es sich vorgestellt hatte, und ich glaube, die verstreuten Trümmer der ›Bar nebenan‹ u nd des Ladens an der Ecke waren doch eine böse Überraschung für sie. Ihr Haus allerdings wird von dem Mann, der auf dem Grundstück wohnt, hervorragend gepflegt, und Merrick verweilte fast eine Stunde lang allein in dem hinteren Garten - auf ihren Wunsch.
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