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Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Titel: Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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beobachtete sie besonders gern bei ihrer Arbeit in den Skriptorien; ich fand es tröstlich, dass sie die antike griechische und römische Dichtkunst hüteten. In den frühesten Stunden des Tages schlich ich mich in die Bibliotheken und kauerte, eine kapuzenvermummte Gestalt, dort vor dem Lesepult, in antike Dichtung und Geschichtswerke aus meiner Zeit vertieft. Ich blieb stets unentdeckt. Ich war zu raffiniert. Und oft verweilte ich am Abend in der Klosterkapelle und lauschte den gregorianischen Chören, was mich ähnlich friedvoll stimmte wie Spaziergänge im Klostergelände oder das Geläut der Turmglocken.
    Inzwischen war die von mir so geliebte griechisch und römisch inspirierte Kunst vollkommen ausgestorben. Eine düstere, religiös beeinflusste Kunst nahm ihren Platz ein. Proportion und Naturalismus waren nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, dass die Bildnisse von der Hingabe zu Gott sprachen. Gemälde und Statuen stellten die menschliche Gestalt häufig unsäglich plump dar, mit fanatisch starrenden Augen und grotesk verzerrten Leibern. Es fehlte nicht an Kunstfertigkeit oder Kenntnissen, denn mit unendlicher Geduld wurden Manuskripte mit Bildern ausgeschmückt und unter hohen Kosten Klöster und Kirchen erbaut. Die Schöpfer dieser Werke hätten ebenso gut anderes schaffen können, doch sie wollten nicht. Kunst sollte nicht die Sinne ansprechen. Kunst sollte heilig sein. Kunst sollte ernst und streng sein. Und so war die Welt der Antike dahin. Natürlich fand ich auch hier Wunderbares, das kann ich nicht leugnen. Mit der Gabe der Lüfte reiste ich zu den gewaltigen gotischen Kathedralen, deren hochgeschwungene Spitzbögen alles übertrafen, was ich je gesehen hatte. Die Schönheit dieser Kathedralen überwältigte mich. Ich sah staunend die großen Handelsstädte, die überall in Europa emporsprossen. Das Land, das durch Krieg nicht hatte befriedet werden können, schien von Handel und Handwerk befriedet worden zu sein. Allenthalben hörte man neue Sprachen. Französisch war die Sprache der Elite, Englisch, Deutsch und Italienisch wurde ebenfalls gesprochen.
    Ich sah all das geschehen, und doch sah ich gar nichts. Und dann schließlich, im Jahr 1200 vielleicht – ich bin mir nicht sicher –, legte ich mich nieder in die Gruft zu einem langen Schlaf. Ich war der Welt müde; und ich war unglaublich stark. Ich beich tete Jenen, die bewahrt werden müssen mein Vorhaben. Die Lampen würden bald verlöschen, sagte ich ihnen, und sie wären im Dunkeln, doch sie möchten mir bitte vergeben, denn ich wäre müde. Ich wollte lange, lange schlafen.
    Während des Schlafes lernte ich. Mein übernatürliches Gehör war inzwischen so stark entwickelt, dass es mich nicht der Stille überließ. Ich konnte den Stimmen der Rufenden nicht entkommen, ob Mensch oder Bluttrinker. Ich konnte dem Lauf der Weltgeschichte nicht entkommen.
    Und so erging es mir also dort auf dem hohen Alpenpass, wo ich mein Versteck hatte. Ich hörte die flehenden Stimmen Italiens, ich hörte die flehenden Stimmen Galliens, das man nun als Frankreich kannte.
    Ich hörte die Menschen, die der schrecklichen Plage des dreizehnten Jahrhunderts anheim fielen, die man heute so passend den schwarzen Tod nennt.
    Im Dunkeln schlug ich die Augen auf. Ich lauschte. Und dann, endlich, erhob ich mich und ging hinunter nach Italien, aus Angst um das Geschick der Welt. Ich musste mein geliebtes Land mit eigenen Augen sehen. Ich musste zurück.
    Die mir unbekannte Stadt, die mich nun anzog, eine große Hafenstadt, hatte es zur Zeit der Cäsaren noch nicht gegeben. Wahrscheinlich war sie sogar die größte Stadt Europas. Venedig war ihr Name, und die ihren Hafen anlaufenden Schiffe hatten den schwarzen Tod mitgebracht, sodass nun Tausende hoffnungslos daniederlagen.
    Als ich nun nach Venedig kam, fand ich eine Stadt mit herrlichsten Palästen, die sich über den dunkelgrünen Wassern der Kanäle erhoben. Aber der schwarze Tod hatte die Einwohner in seiner Gewalt, und täglich starben ungezählte, deren Leichname mit Fähren zu den Inseln inmitten der großen Lagune gebracht wurden, wo man sie tief im Boden begrub.
    Allenthalben gab es nur Tränen und Trostlosigkeit. Mit schweißbedeckten Gesichtern und von Beulen übersäten, geschwollenen Leibern lagen die gequälten Menschen sterbend in den Pesthäusern. Über allem schwebte der Leichengestank. Einige der Einwohner versuchten, aus der verseuchten Stadt zu fliehen, andere verharrten bei ihren kranken Angehörigen.

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