Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
setzte man sich in diesem Zeitalter zielstrebig dafür ein, zu bewahren, was von der Antike geblieben war, von ihr zu lernen und ihrer Kunst und Dichtung nachzueifern. Die Kraft dieser Bewegung übertraf meine kühnsten Träume.
Wie kann ich es klarer ausdrücken? Dieses blühende Zeitalter, das sich Geldgeschäften und Handel verschrieben hatte, in dem unzählige Menschen prächtige Kleider aus schwerem Samt trugen, hatte sein ganzes Herz an das Schönheitsbild der alten Römer und Griechen verloren!
Während all der trüben Jahrhunderte, die ich müde in meiner Gruft lag, hätte ich nie gedacht, dass ein solcher Umschwung eintreten könnte, und am Anfang war ich so hoch gestimmt von allem, was ich sah, dass ich kaum etwas anderes tat, als die schlammigen Straßen zu durchstreifen; dann wandte ich mich mit überschwänglicher Freundlichkeit an Sterbliche, um sie über ihre Ansichten zu den Vorgängen ringsum und über die neuen Zeiten auszufragen.
Natürlich beherrschte ich die neue Sprache, Italienisch, die sich aus dem früheren Latein entwickelt hatte, und gewöhnte mich bald daran, sie zu hören und zu sprechen. Sie war nicht schlecht, die Sprache. Eigentlich war sie sogar schön, wenn ich auch schnell herausfand, dass Gelehrte immer noch im Griechischen und in Latein gut bewandert waren.
Aus den zahlreichen Antworten erfuhr ich auch, dass Florenz und Venedig als fortschrittlicher galten als Rom, was diese geistige Wiedergeburt anging, aber wenn es nach dem Papst ging, würde sich das bald ändern.
Der Papst war nicht länger nur das Oberhaupt der Christen. Er vertrat die Überzeugung, dass Rom auch auf kulturellem und künstlerischem Gebiet eine wirkliche Hauptstadt sein müsste, und er sorgte nicht nur für die Fertigstellung des Petersdoms, sondern ließ inmitten des eigenen Palastes auch an der Sixtinischen Kapelle arbeiten. Es war ein gewaltiges Unternehmen. Für einige der Gemälde hatte man Künstler aus Florenz kommen lassen, und die ganze Stadt zeigte lebhaftes Interesse an der künstlerischen Schönheit der Fresken, die entstanden waren. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich in den Straßen und Schenken, wo ich dem Klatsch über all diese Dinge lauschte, und dann machte ich mich auf zum Papstpalast, fest entschlossen, die Sixtinische Kapelle mit eigenen Augen zu sehen. Welch schicksalhafte Nacht!
In den düsteren Jahrhunderten, die auf den Abschied von meinen beiden Lieben, Avicus und Zenobia, gefolgt waren, hatten eine Anzahl Sterblicher und einige Kunstwerke mein Herz gerührt, aber keine dieser Erfahrungen hatte mich auf das vorbereitet, was ich bei meinem Eintritt in die Sixtinische Kapelle erblicken sollte. Du musst verstehen, ich spreche nicht von Michelangelo, der für seine dortigen Gemälde weltberühmt ist, denn zu jener Zeit war er noch ein Kind, und seine Arbeiten an der Kapelle lagen noch in ferner Zukunft.
Nein, nicht das Werk Michelangelos sah ich in dieser schicksalsträchtigen Nacht. Vergiss Michelangelo. Es war das Werk eines anderen.
Ich konnte problemlos an den Palastwachen vorbeihuschen und fand mich schon bald innerhalb der Mauern dieser erhabenen Kapelle, die, sonst zwar nicht für die gesamte Öffentlichkeit zugänglich, nach ihrer Fertigstellung jedoch für hohe Zeremonien genutzt werden sollte.
Und unter all diesen vielen Wandgemälden blieb mein Auge sofort an einem bestimmten haften, einem riesigen, mit leuchtenden Farben gemalten Werk, auf dem ein erhabener Mann dargestellt war, von dessen Haupt goldenes Licht strömte.
Nichts hatte mich auf den Naturalismus dieser Malerei vorbereitet, auf den lebhaften und doch würdevollen Gesichtsausdruck der Gestalten, auf ihre in anmutige Falten gelegten Gewänder. In drei hervorragend dargestellten Gruppen herrschte große Unruhe, während der Weißhaarige mit dem golden strahlenden Schein sie unterwies oder rügte, wobei sein eigenes Antlitz ganz ernst und ruhig blieb.
Das Ganze war so harmonisch zusammengestellt, wie ich es nie selbst hätte ersinnen können, und obwohl die Schöpfung dieser Gestalten an sich schon Gewähr für ein Meisterwerk war, zeigte das Bild darüber hinaus noch eine phantastische andere Welt. Zwei große Schiffe ankerten in einem fernen Hafen, oberhalb davon türmten sich Berggipfel unter einem tiefblauen Himmel, und rechts im Bild erhob sich der Konstantinbogen, der ja immer noch in Rom stand, mit zierlichsten goldenen Ornamenten geschmückt, als wäre er nie zerstört worden, und die Säulen
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