Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Säugling zu sein, der einen so starken Kontrast zu ihrem krankhaften rosaäugigen Albinismus bildete, und man hörte sie viele seltsame Prophezeiungen über seine ungewöhnlichen Kräfte und seine ungeheuerliche Zukunft dahermurmeln.
Lavinia war eine Person, von der man ein solches Verhalten erwarten würde, denn sie war ein einsames Geschöpf mit dem Hang, während stärkster Gewitterstürme in den Bergen zu wandern; außerdem versuchte sie die großen, streng riechenden Bücher zu lesen, die sich seit 200 Jahren im Besitz der Whateleys befanden und vor Alter und Wurmfraß rapide verfielen. Sie hatte nie eine Schule besucht, war aber erfüllt von unzusammenhängenden Bruchstücken uralter Lehren, die der alte Whateley ihr vermittelt hatte.
Das entlegene Bauernhaus war seit langer Zeit gefürchtet aufgrund Whateleys Ruf als Meister der schwarzen Magie, und der unaufgeklärte gewaltsame Tod von Mrs. Whateley zu der Zeit, als Lavinia zwölf Jahre alt war, hatte keineswegs dazu beigetragen, den Ort beliebter zu machen. Isoliert und seltsamen Einflüssen ausgesetzt, liebte Lavinia wilde und glorreiche Tagträume und eigenartige Beschäftigungen; auch wurde ihr Müßiggang nicht weiter durch irgendwelche häusliche Pflichten gestört, denn ihr Heim ließ schon seit Langem jedes Mindestmaß an Ordnung und Reinlichkeit vermissen.
Ein grauenhaftes Geschrei erscholl in der Nacht von Wilburs Geburt, das selbst das Lärmen in den Bergen und das Hundegebell übertönte; offenbar hatte weder ein Arzt noch eine Hebamme der Niederkunft beigewohnt. Die Nachbarn erfuhren erst eine Woche darauf von dem Kind, als der alte Whateley mit seinem Schlitten durch den Schnee nach Dunwich kam und in Osborns Gemischtwarenladen eine wirre Ansprache vor einer Gruppe von Müßiggängern hielt. In dem alten Mann schien sich ein Wandel vollzogen zu haben – seine Geheimniskrämerei ließ vermuten, dass sein umnachtetes Hirn ihn unterschwellig von einem Gegenstand der Furcht zu ihrem Opfer machte, obwohl er kein Mensch war, der sich von einem gewöhnlichen Familienereignis beirren ließ. Überdies legte er einen Stolz an den Tag, den man später auch bei seiner Tochter bemerkte, und was er über die Vaterschaft des Kindes äußerte, sollte den meisten Zuhörern noch für Jahre in Erinnerung bleiben.
»Mir isses gleich, was die Leut denken tun – wenn Lavinnys Jung wie sein Papa aussehn tät, würd er nich so aussehn, wie ihr alle meint. Ihr müsst nich denken, die Leut hier wär’n die einzigen Leut, wo’s gibt. Die Lavinny hat Sachen gelesen un manch Dinger gesehn, von denen ham die meisten von euch ja keine Ahnung nich. Ich schätz ma, ihr Mann is so’n guter Ehemann wie nur irgendwer, den ma auf dieser Seit von Aylesbury finden kann; un wenn ihr so viel über die Hügel wissen tät wie ich, dann wüsstet ihr, dass ne Heirat in der Kirch auch nich besser is als ihre. Eins will ich euch sagen – eines Tages werdet ihr Leut das Kind vonner Lavinny hör’n, wie’s auf’m Gipfel vom Sentinel Hill den Namen von seinem Vater rufen tut! «
Die einzigen Personen, die Wilbur in seinem ersten Lebensmonat zu Gesicht bekamen, waren der alte Zechariah Whateley von den unverdorbenen Whateleys und Earl Sawyers Lebensgefährtin Mamie Bishop. Mamies Besuch geschah aus reiner Neugierde, und ihre darauf folgenden Erzählungen entsprachen ihren Beobachtungen; Zechariah hingegen kam, um ein Paar Alderney-Kühe vorbeizubringen, die der alte Whateley seinem Sohn Curtis abgekauft hatte. Damit begann eine Reihe von Viehkäufen vonseiten der Familie des kleinen Wilbur, die erst im Jahre 1928 endete, als das Grauen von Dunwich kam und wieder verschwand; und doch schien der baufällige Viehstall der Whateleys nie überfüllt zu sein.
Schließlich wurden die Leute so neugierig, dass sie sich hinschlichen und die Herde zählten, die auf dem gefährlich steilen Hang über dem alten Bauernhaus weidete, und nie bekamen sie mehr als zehn oder zwölf anämische, ausgezehrt wirkende Exemplare zu Gesicht. Offenbar verursachte eine Krankheit oder ein Parasitenbefall, der vielleicht von dem ungesunden Weidegras oder den Schimmelpilzen auf den Brettern des schmutzigen Stalles herrührte, eine hohe Sterblichkeitsrate unter den Tieren der Whateleys. Eigenartige Entzündungen und Wunden, die wie Einschnitte aussahen, schienen die Rinder zu plagen; ein- oder zweimal im Laufe der ersten Monate glaubten einige Besucher, ähnliche Wunden an den Kehlen des ergrauten unrasierten
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