Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
hab doch nicht gewusst…«
»Natürlich hast du das nicht gewusst. Du weißt überhaupt nichts über Idris. Und im Grunde ist dir dieses Land auch herzlich egal. Du warst lediglich sauer, dass man dich zurückgelassen hat, und hast daraufhin einen Trotzanfall bekommen … wie ein kleines Kind. Und jetzt sitzen wir hier. Fernab jeglicher Zivilisation, mit durchnässten Sachen, in dieser Eiseskälte und …« Luke verstummte und sah sie mit angespannter Miene an. »Also los. Machen wir uns auf den Weg.«
Bedrückt schweigend folgte Clary Luke den Weg am Seeufer entlang. Im Laufe der Zeit sorgte die Sonne dafür, dass ihre Haut und ihre Haare trockneten, aber der Samtumhang hielt das Wasser fest wie ein Schwamm. Er hing an Clary herab wie ein bleierner Vorhang, während sie hastig durch Geröll und Matsch stolperte, im Bemühen, mit Lukes großen Schritten mitzuhalten. Mehrfach versuchte sie, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Luke schwieg eisern. Bisher hatte Clary noch nie etwas angestellt, das so schlimm gewesen war, dass Lukes Zorn sich nicht durch eine Entschuldigung hätte besänftigen lassen. Doch dieses Mal sah die Sache offensichtlich anders aus.
Die Felsen um den See herum schienen mit jedem Schritt steiler zu werden und mit düsteren Flecken übersät zu sein wie mit schwarzen Farbspritzern. Doch als Clary genauer hinsah, erkannte sie, dass es sich dabei um Höhlen handelte. Einige erweckten den Eindruck, als würden sie ziemlich tief in das dunkle Gestein hineinreichen. Sofort musste Clary an Fledermäuse und anderes Krabbelgetier denken, das in der Finsternis lauern konnte, und ein kalter Schauer jagte ihr über den Rücken.
Endlich fanden sie einen schmalen Pfad, der durch die Felsen hindurch zu einem breiteren Schotterweg führte. Der in der Nachmittagssonne indigoblau schimmernde See blieb schon bald hinter ihnen zurück und sie folgten dem Weg, der sich durch eine flache, grasbewachsene Ebene zog, welche in der Ferne in sanfte Hügel überging. Clarys Mut schwand: Von einer Stadt war weit und breit nichts zu sehen.
Mit einem Ausdruck äußersten Unbehagens starrte Luke in Richtung der Hügel. »Wir sind weiter entfernt, als ich dachte. Es ist so lange her, dass ich hier gewesen bin …«
»Vielleicht gelingt es uns ja, eine größere Straße zu finden«, meinte Clary. »Dann könnten wir per Anhalter fahren … uns in die Stadt mitnehmen lassen oder…«
»Clary. In Idris gibt es keine Autos.« Als er ihren geschockten Gesichtsausdruck sah, lachte Luke freudlos. »Die Schutzschilde würden die Motoren beeinträchtigen. Die meisten technologischen Errungenschaften funktionieren hier nicht - Mobiltelefone, Computer und dergleichen. Alicante selbst wird hauptsächlich von Elbenlicht beleuchtet und mit Strom versorgt.«
»Oh«, sagte Clary leise. »Na dann… Wie weit sind wir denn noch von der Stadt entfernt?«
»Zu weit.« Luke fuhr sich mit beiden Händen durch die kurzen Haare. »Es gibt da etwas, das ich dir besser sagen sollte«, murmelte er, ohne sie anzusehen.
Clary erstarrte. Die ganze Zeit hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass Luke wieder mit ihr reden würde; doch jetzt war der Wunsch auf einmal wie weggeblasen. »Schon in Ordnung … du brauchst nicht…«
»Ist dir eigentlich aufgefallen«, unterbrach Luke sie, »dass sich auf dem Lyn-See keine Boote befinden? Keine Boote, keine Anlegestege - nichts, was darauf hindeuten würde, dass die Menschen in Idris den See in irgendeiner Weise nutzen würden?«
»Ich hab gedacht, dass läge daran, dass er so weit weg ist.«
»So weit weg ist er nun auch wieder nicht. Nur ein paar Stunden von Alicante entfernt. Das Problem ist jedoch, dass der See …« Luke verstummte und seufzte. »Erinnerst du dich an das Intarsienmuster im Holzboden der Bibliothek im Institut?«
Clary blinzelte. »Ja, schon, aber ich konnte nicht erkennen, was es darstellen sollte.«
»Es zeigt einen Engel, der aus einem See aufsteigt, in den Händen einen Kelch und ein Schwert. Dieses Motiv findet sich bei vielen Nephilim-Dekorationen. Die Legende besagt, dass der Erzengel Raziel aus dem See Lyn aufgestiegen sei, als er Jonathan Shadowhunter, dem ersten der Schattenjäger, erschienen ist und ihm die Insignien der Engel überreicht hat. Seit diesem Zeitpunkt ist der See …«
»Heilig?«, schlug Clary vor.
»Verwunschen«, sagte Luke. »Das Wasser des Sees ist für Schattenjäger giftig. Schattenweltlern fügt er dagegen keinen Schaden zu …
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