Chroniken der Unterwelt Bd. 4 City of fallen Angels
daran, wie sich Zittern anfühlte, verblasste immer mehr, Tag für Tag, wie die Erinnerungen an ein früheres Leben.
»Simon?«
Er blieb stocksteif stehen. Die Stimme, leise und vertraut, schwebte wie ein feiner Ton durch die dunkle, kalte Nacht. Und lächeln. Das war das Letzte, was sie zu ihm gesagt hatte.
Doch das konnte nicht sein. Sie war tot.
»Willst du mich nicht ansehen, Simon?« Ihre Stimme war so zart wie immer, kaum ein Hauch. »Ich bin hier drüben.«
Die Angst kroch ihm das Rückgrat hinauf. Langsam öffnete er die Augen und drehte den Kopf.
Maureen stand im Lichtkegel einer Straßenlaterne genau an der Ecke des Vernon Boulevard. Sie trug ein langes weißes, jungfräuliches Kleidchen. Ihre Haare fielen bis über ihre Schultern und glänzten golden im Licht. Simon konnte noch einige Krümel Graberde darin erkennen. Maureens Füße steckten in kleinen weißen Schläppchen; ihr Gesicht war leichenblass, mit einem Klecks Rouge auf den Wangenknochen, und irgendjemand hatte ihre Lippen dunkelrosa geschminkt, sodass sie aussahen wie mit einem Filzstift aufgemalt.
Simons Beine gaben nach. Er rutschte an der Ziegelwand herab, bis er mit angezogenen Knien auf dem Boden saß. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren.
Maureen gab ein jungmädchenhaftes Kichern von sich. Dann trat sie aus dem Lichtkegel, kam auf ihn zu und schaute auf ihn hinunter, mit einem Ausdruck amüsierter Zufriedenheit in den Augen. »Ich dachte mir schon, dass du überrascht gucken würdest«, sagte sie.
»Du bist ein Vampir«, stellte Simon fest. »Aber wie ist das möglich? Ich habe dir das nicht angetan. Ich weiß, dass ich es nicht war.«
Maureen schüttelte den Kopf. »Nein, das warst du nicht. Aber du warst der Grund dafür. Sie haben mich nämlich für deine Freundin gehalten. Deshalb haben sie mich nachts aus meinem Schlafzimmer entführt und mich den ganzen nächsten Tag in einen Käfig eingesperrt. Sie meinten, ich solle mir keine Sorgen machen, weil du kommen und mich holen würdest. Aber du bist nicht gekommen.«
»Das wusste ich doch nicht«, erwiderte Simon mit brechender Stimme. »Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich dich holen gekommen.«
Maureen warf ihr blondes Haar mit Schwung zurück über die Schulter — eine Geste, die Simon plötzlich und schmerzhaft an Camille erinnerte. »Aber das ist auch egal«, fuhr sie mit ihrer Jungmädchenstimme fort. »Als die Sonne unterging, sagten sie mir, ich könne sterben oder so weiterleben wie jetzt. Als ein Vampir.«
»Dann hast du dich hierfür freiwillig entschieden?«
»Ich wollte nicht sterben«, flüsterte sie. »Und jetzt werde ich für immer jung und schön bleiben. Ich kann jede Nacht ausgehen und muss nie mehr nach Hause zurück. Und sie passt auf mich auf.«
»Wovon redest du? Wer ist ›sie‹? Meinst du Camille? Maureen, Camille ist verrückt. Du darfst nicht auf sie hören.« Simon kam schwankend auf die Beine. »Ich kann dir helfen. Einen Platz finden, an dem du bleiben kannst. Dir zeigen, wie man als Vampir zurechtkommt …«
»Oh, Simon.« Sie lächelte und entblößte dabei eine Reihe perfekter kleiner weißer Zähne. »Ich glaube nicht, dass du selbst weißt, wie man als Vampir zurechtkommt. Du wolltest mich nicht beißen, aber du hast es dennoch getan. Ich erinnere mich gut daran. Deine Augen wurden so schwarz wie die eines Haifischs und dann hast du mich gebissen.«
»Es tut mir so leid. Ich würde dir wirklich gern helfen …«
»Du könntest mit mir kommen«, sagte sie. »Das würde mir helfen.«
»Wohin mitkommen?«
Maureen schaute die menschenleere Straße auf und ab. In ihrem dünnen weißen Kleidchen wirkte sie wie ein Gespenst. Der Wind umspielte ihren Körper, doch offensichtlich spürte sie die Kälte nicht. »Du bist auserwählt«, sagte sie. »Denn du bist ein Tageslichtler. Diejenigen, die mir das angetan haben, wollen dich. Aber sie wissen jetzt, dass du das Kainsmal trägst, und sie kommen nicht an dich heran, solange du nicht freiwillig zu ihnen gehst. Also haben sie mich als Boten geschickt.« Sie legte den Kopf zur Seite, wie ein kleiner Vogel. »Vielleicht bedeute ich dir ja nicht wirklich etwas«, fuhr sie fort, »doch beim nächsten Mal wird es jemanden treffen, der dir etwas bedeutet. Sie werden den Menschen, die du liebst, so lange etwas antun, bis niemand mehr übrig ist. Also kannst du genauso gut jetzt gleich mit mir kommen und herausfinden, was sie von dir wollen.«
»Weißt du …?«,
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