Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
Tür.«
Oskar reckte den Hals. »Habt ihr denn schon etwas herausgefunden?« Sein Blick fiel auf den Metalldeckel, in dem eine Handvoll grüner Körner hysterisch umeinanderkrochen.
»Humboldt vermutet, dass es eine Art Pflanze ist«, sagte Charlotte. »Allerdings keine Pflanze, wie wir sie kennen. Sie stammt eindeutig nicht von der Erde.«
»Woher dann?«
»Vermutlich von sehr weit weg aus dem Weltraum. Sie repräsentiert eine Form von Leben, die auf der Erde unbekannt ist.«
»Und wie kommt ihr darauf?«
»Sieh es dir selbst an.« Humboldt nahm seine Schutzbrille ab und deutete auf einen Metalleimer, der in einem schattigen Winkel des Raums stand. Oskar hatte ihn vorhin schon bemerkt, ihm aber keine Beachtung geschenkt. Jetzt trat er neugierig näher. Irgendetwas blinkte und funkelte darin.
»Was ist das?«
»Das habe ich letzte Nacht eingesät, und schau, wie prächtig sie schon gediehen sind«, sagte der Forscher nicht ohne Stolz.
Oskar trat näher. Die Gebilde sahen irgendwie unheimlich aus. Schlanke, nadelförmige Spitzen, die komplett aus grünem Glas zu bestehen schienen. Während er noch zuschaute, platzte eine dieser Nadeln auf und ein weiterer Trieb schob sich daraus hervor, höher und länger als der erste. Die beiden Teile, die abgefallen waren, verschwanden in der Erde. Es dauerte jedoch nicht lange, bis an ihrer Stelle zwei neue Triebe aus dem Boden wuchsen. Ein Singen und Klingen erfüllte die Luft. Die Stäbe wirkten so hauchdünn und zerbrechlich, als ob sie beim kleinsten Lufthauch in sich zusammenfallen könnten. Oskar spürte jedoch, dass das nur eine Täuschung war und dass sie sehr wohl in der Lage sein würden, sich zu verteidigen.
»Das soll eine Pflanze sein?«
Der Forscher nickte. »Eine Pflanze aus Glas. Aus Silizium, um genau zu sein. So etwas gibt es auf der Erde nicht. Das Leben bei uns ist aus Kohlenstoffverbindungen aufgebaut.«
»Wie haben Sie das Ding so schnell zum Wachsen gebracht?«, fragte Oskar angewidert.
»Mit Wasser. Ein paar Tropfen genügen.«
»Das ist alles? Einfach nur Wasser?«
Humboldt bestätigte es. »Ich habe festgestellt, dass das Wesen drei Dinge zum Überleben braucht: Wasser, Silizium – wie es in Sand enthalten ist – und Wärme. Direktes Sonnenlicht verhindert das Wachstum, aber im Schatten gedeihen die Pflanzen prächtig.«
»Und das alles aus den paar Körnern? Was geschieht, wenn man sie in einen Brunnen werfen würde?«
»Daran wage ich gar nicht zu denken. Die Folgen wären vermutlich furchtbar. Aber jetzt sieh her. Das Tollste kommt noch. Ich glaube, dass diese Kreatur in der Lage ist, die Gestalt anderer Lebewesen anzunehmen. Sie dringt in sie ein, übernimmt sie und setzt ihre Zellen anstelle der ursprünglich vorhandenen. Der erste Versuch mit einer normalen Hausfliege war, genau genommen, nur ein Unfall, aber er hat mich auf die Idee gebracht.«
»Was für eine Hausfliege?«
Charlotte schlang die Arme um ihren Körper. »Sie hockte auf dem Rand der Metallschale, als eines der Sandkörner zu ihr hochkroch und blitzschnell in sie eindrang. Die Fliege hatte nicht mal die Chance davonzufliegen. Sie saß einfach nur da und ließ es geschehen.«
»Und dann?« Oskar betrachtete seinen Arm, als könnten Fliegenbeine daraus hervorwachsen.
»Die Fliege fing an zu rucken und zu zucken. Sie fiel auf den Tisch und blieb da liegen. Wir dachten schon, sie wäre tot, doch dann wurde sie plötzlich wieder lebendig. Sie schwirrte los und setzte sich auf das Fenster.« Charlotte deutete auf das Glas. Oskar trat näher und entdeckte, dass dort ein Loch war. Wie eine Verätzung. »Sie fing an zu fressen«, sagte sie. »Sie fraß das Glas und wurde dabei immer größer und durchscheinender. Es war unheimlich.«
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«
Humboldt stieß ein verlegenes Räuspern aus.
»Ich habe sie erschlagen«, sagte Charlotte. »Nicht sehr wissenschaftlich, ich weiß, aber du hättest sie sehen sollen. Sie war zu einer echten Monsterfliege geworden.« Sie schüttelte sich.
»Ein unbedeutender Fehlschlag«, sagte Humboldt. »Unser nächster Versuch wird uns Gewissheit bringen. Wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben, können wir vielleicht eine Methode entwickeln, es zu bekämpfen.«
»Was haben Sie vor?«
Humboldt klopfte auf eine Schachtel, die neben der Metallschale auf dem Tisch stand. Von innen kamen raschelnde Geräusche. Er zog einen Handschuh über, dann klappte er den Deckel auf. Es war eine Maus. Eine ganz gewöhnliche
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