Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
über den Rand seiner Brille hinweg an. »Also, da wäre ich jetzt nie von alleine draufgekommen. Vielen Dank für den Tipp.«
»Gerne geschehen«, grinste Oskar.
Noch einmal griff Humboldt nach dem Messer und lieà die dünne Metallklinge am Rande des Kuverts entlangfahren. Dann griff er hinein und zog drei eng beschriebene Seiten heraus, die mit sperrigen, kastigen Buchstaben bedeckt waren. Es wurde mucksmäuschenstill am Tisch.
Eliza war die Erste, die aussprach, was ohnehin alle dachten. »Das ist deine eigene Schrift, Carl Friedrich. Der Brief stammt von dir selbst. Und da ist noch etwas.« Sie deutete auf den Briefkopf. »Sieh dir das Datum an.«
Oskar reckte den Hals. Seine Augen wurden groà wie Murmeln. Wenn es kein Scherz war, was da stand, und dem Absender kein Irrtum unterlaufen war, so konnte es nur eines bedeuten: Dieser Brief stammte aus der Zukunft!
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L ieber Carl Friedrich,
wenn du das hier liest, werde ich bereits tot oder in Gefangenschaft sein. Was aber gleichbedeutend ist, denn ich bin viel zu gefährlich, als dass man mich am Leben lassen könnte. Du ahnst gar nicht, wie schwer es mir fällt, Oskar und Charlotte dazu zu bewegen, das Zeitschiff zu besteigen und zurück in unsere Zeit zu reisen, wo wir auf eine halbe Kompanie schwer bewaffneter Soldaten treffen werden, die uns umstellt und ihre Waffen auf uns gerichtet haben. Es ist eine Reise in unser sicheres Verderben, doch dieser Schritt ist unumgänglich, wenn wir gewährleisten wollen, dass das Raum-Zeit-Kontinuum keinen Schaden davonträgt. Welch grausamer Gott er doch ist, der Gott der Zeit.
Du wirst mittlerweile erraten habe, dass ich es selbst bin â dein zukünftiges Ich â, der dir diesen Brief schreibt, und dass ich deine Hilfe benötige. Worum es geht, ist einfach erklärt. Wir müssen die Zukunft verändern. Genauer gesagt: Du musst das tun. Am morgigen Tag wird etwas geschehen, das der Geschichte unseres Landes und der ganzen Welt eine katastrophale Wendung geben und eine Zukunft erschaffen wird, wie sie düsterer nicht sein könnte. Obwohl ich mir immer geschworen habe, niemals in den Verlauf der Geschichte einzugreifen, so weiche ich doch in diesem speziellen Fall von meinem Vorsatz ab. Befremdlich? Ja, vielleicht. Aber du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.
Du wirst dich fragen, ob das alles nur ein Scherz ist, ob sich da jemand einen bösartigen Streich erlaubt. Lass mich dir versichern: Es ist kein Scherz. Was geschehen wird, wird geschehen. Den Beweis findest du in Form chronologisch geordneter Fotografien und Zeitungsausschnitte sowie eines Buches, das Oskar von einer Reise mitgebracht hat, sodass du dir ein eigenes Bild machen kannst. Glaube mir, es geht um nichts Geringeres als das Ãberleben der Menschheit.
Morgen früh, am Samstag, den 5.  Juni 1895 um Punkt 10  Uhr, wird etwas geschehen, was die Dinge ins Rollen bringt. Wie eine Kette von Dominosteinen fällt ein Ereignis auf das andere. Unausweichlich, unaufhaltsam und unbeschreiblich.
Unsere einzige Möglichkeit besteht darin, der Geschichte an dieser einen Stelle einen kleinen Schubs zu verpassen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Wenn meine Berechnungen stimmen â und du weiÃt, ich irre mich selten â, wird es dazu führen, dass all die schrecklichen Dinge, die geschehen werden, nicht passieren und dass wir â und mit uns die gesamte Menschheit â einen glücklicheren und friedlicheren Weg beschreiten.
Leider bin ich nicht in der Lage, diese Veränderung selbst herbeizuführen. Meine Aufgabe besteht darin, zu beschreiben und zu dokumentieren und dir einen möglichst detaillierten Bericht der Vorkommnisse zu liefern, damit du und deine Begleiter zum richtigen Zeitpunkt das Richtige unternehmen könnt. Sobald das geschehen ist, wird der bisherige Zeitstrahl aufhören zu existieren. Stattdessen wird ein neuer entstehen. Ein Zeitstrahl, in dem Eliza nicht ermordet, Willi nicht zum Verräter und die Menschheit nicht zu Sklaven einer Kultur von Maschinen wird. Ja, du hast richtig gelesen. All das wird geschehen, wenn du nichts dagegen unternimmst. Sobald du das Attentat verhindert hast, musst du das Zeitschiff zerstören. Es ist unumgänglich. Weder darf es jemals zu einer Zeitreise kommen noch darf irgendjemand davon erfahren. Versprich mir, dass du alle Spuren beseitigen wirst. Fritz Ferdinand von der Berliner
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