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Chuzpe: Roman (German Edition)

Chuzpe: Roman (German Edition)

Titel: Chuzpe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Brett
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nur gesagt, er lebe komfortabel. Und er habe sich zur Ruhe gesetzt. Das waren sehr beunruhigende und irritierende Aspekte einer scheinbar harmlosen Aussage.
    »Geht es dir gut, Dad?« fragte Ruth.
    »Mir geht es mehr als gut«, sagte Edek.

Viertes Kapitel
    Ruth las ihre E-Mails. Sie hatte eine E-Mail von einem Kunden erhalten, einem Verleger, der wissen wollte, ob sie Lust habe, ein kleines Buch mit dem Titel Dreißig Arten, einen Brief zu beginnen und zu beenden zu verfassen. Vor einigen Monaten hatte sie sich mit ihm darüber unterhalten, welche Schwierigkeiten es den meisten bereitete, Anrede und Schluß eines Briefs zu formulieren. Die meisten begannen Briefe mit den denkbar gestelztesten, linkischsten und ungeschicktesten Wendungen. Mit inflationärer Häufigkeit tauchte die Abkürzung »bzgl.« in Briefanfängen auf – egal, ob es sich um eine Einladung handelte, einen gemeinsamen Urlaub, das letzte Schreiben des Angeschriebenen, dessen Vorschlag oder Frage. Aber mit den Schlußworten sah es nicht besser aus. »Freundliche Grüße« hatten in ihrer Beliebigkeit nichts Freundliches mehr, und »beste Grüße« hatte fast schon einen Beigeschmack des Fehdehandschuhs. Ruth hatte gehofft, daß der E-Mail-Verkehr die Leute zu einem besseren Briefstil anspornen würde. Das Gegenteil war der Fall gewesen. Alles wurde noch weiter verstümmelt und verkürzt. Alles wurde ausgemerzt, was die Grundinformation überstieg. Anredeund Schlußformeln waren ganz und gar abgeschafft. Ruth dachte über das Buchprojekt nach. Es war nicht verlockend. Sie hatte das Gefühl, eine Menge Briefe begonnen und beendetzu haben. Sie wünschte sich kein neues Vorhaben. Sie wünschte sich ein ruhigeres, gelasseneres Leben.
    Max meldete sich. »Da ist jemand am Telefon für Sie«, sagte Max. »Sie will mir nicht sagen, wie sie heißt oder warum sie anruft. Sie will nur mit Ihnen sprechen. Sie sagt, es sei eine Überraschung.« Ruth verabscheute Überraschungen. Auch erfreuliche. Überraschungen in jeder Form und Gestalt waren ihr verhaßt. Sie war gerne gewappnet. Sie wußte gerne, was sie erwartete. Sie mied gerne soviel wie möglich von dem, was das Leben an Unberechenbarem in petto hatte.
    »Sie klingt ziemlich begeistert«, sagte Max.
    »Okay«, sagte Ruth. Sie ergriff den Hörer. »Ruth Rothwax«, sagte sie.
    »Ruthie«, sagte eine Stimme, »Ruthie, hier spricht Zofia.«
    Ruth war entsetzt. Und ratlos.
    »Wo sind Sie, Zofia?« fragte sie.
    »Ich bin am Flughafen von Newark«, sagte Zofia. »Walentyna ist auch da.«
    Ruth war fassungslos. Wie konnten Zofia und Walentyna in Amerika sein? Am Flughafen von Newark? Eine halbe Fahrstunde entfernt von Ruths Wohnung? Wie war es dazu gekommen? Warum waren sie hier?
    »Sie sind am Flughafen von Newark?« sagte Ruth, während sich in ihrem Kopf alles drehte.
    »Ja, Ruthie«, sagte Zofia, »ich und Walentyna, wir sind am Flughafen von Newark in New York. Wir sind sehr aufgeregt.«
    Plötzlich grub sich eine Frage wie ein Schlag in Ruths Magengrube. Ihr wurde übel. Wer hatte Zofia und Walentyna die Telefonnummer ihres Büros gegeben? Die Antwort lag auf der Hand.
    »Wir freuen uns sehr darauf, Sie wiederzusehen, Ruthie«, sagte Zofia. Im Hintergrund hörte Ruth Walentynas Stimme.
    »Wir freuen uns sehr, Sie wiederzusehen«, sagte Walentyna. Walentyna wirkte sehr aufgeräumt. Beinahe überschwenglich. Sie klang gar nicht wie die stille, von Zofia in den Hintergrund gedrängte Person, die sie in Polen gewesen war. Beide Frauen waren offenkundig völlig aus dem Häuschen.
    Ruth war übel. Sie öffnete die oberste Schublade ihres Schreibtischs. Sie fragte sich, ob sie noch Pepto Bismol vorrätig hatte. Ein kleiner Flakon Pepto Bismol für Notfälle sollte eigentlich immer vorhanden sein. Er war nicht vorhanden. Und das hier war ein Notfall. Ihr wurde noch übler. Wie kam Zofia nach New York? Und warum nannte sie sie Ruthie? In den wenigen Minuten ihres Telefongesprächs hatte Zofia mindestens ein halbdutzendmal Ruthie gesagt. Als wäre sie ihre engste Freundin. Oder eine nahe Verwandte. Dieser Gedanke verursachte Ruth noch mehr Übelkeit.
    »Wohin fahren Sie jetzt?« fragte sie Zofia. »Was ist Ihr Ziel?«
    »Wir fahren nicht weiter«, sagte Zofia. »Wir bleiben in New York. Ruthie, sogar hier draußen am Flughafen von Newark sieht New York aus wie New York.«
    Was wollte sie damit sagen, fragte sich Ruth. Was konnte sie meinen? Die Menschenmenge an der Gepäckausgabe? Den Mangel an Kofferträgern? Die

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