Chuzpe: Roman (German Edition)
Popcornverkäufer? Was wußte Zofia, die aus Zoppot kam, einem kleinen polnischen Seebad, von New York? Einen Augenblick lang fragte Ruth sich, ob das Ganze ein Scherz sein konnte. Befand Zofia sich in Wahrheit in Zoppot? Es war ein kurzer Augenblick. Im Hintergrund konnte Ruth die Flughafendurchsagen hören. Englische Durchsagen.
»Ich meinte, wohin Sie vom Flughafen aus fahren?« sagte Ruth.
»Oh, natürlich fahren wir zu Edeks Wohnung«, sagte Zofia. »Aber wir werden uns bald sehen.«
Ruth legte den Hörer auf. Sie saß reglos da. Sie hatte keine Kraft, sich zu bewegen. Oder zu denken. Vielleicht wollte sie auch gar nicht denken. Vielleicht wollte sie die Horde von Gedanken und Fragen abwehren, die ihren Kopf zu stürmen und mit Beschlag zu belegen drohte. Sie wollte ihren Vater nicht anrufen. Sie nahm an, daß er wußte, daß Zofia und Walentyna auf dem Weg zu seinem Apartment waren. Sie wollte nicht mit ihm sprechen. Sie konnte es nicht ertragen, zu hören, wieviel er wußte oder nicht wußte. Und wie lange er das, was er wußte, schon wußte. Wie benommen saß sie in ihrem Büro. Plötzlich war manches am Verhalten ihres Vaters gar nicht mehr so unerklärlich. Zum Beispiel seine Geschäftigkeit. Sein Nichterscheinen in der Firma. Seine vielen Aktivitäten bei Tag und bei Nacht. Was tat er, wenn er »zu tun« hatte, »zu tun mit Sachen, wie sie tun normale Leute«?
Ruth hätte gern gewußt, wie lange Zofia und Walentyna sich in New York aufhalten würden. Wahrscheinlich zwei oder drei Wochen lang, vermutete sie. Dann befiel sie eine neue Ahnung. Und wenn sie beabsichtigten, länger zu bleiben? Edeks Interesse an der Lower East Side kam ihr in den Sinn. Und seine genaue Kenntnis der Immobilien- und Mietpreise. Das konnte unmöglich mit Zofia und Walentyna zusammenhängen – oder vielleicht doch? Und was war mit Edeks Wunsch nach einer größeren Wohnung? Was führte ihr Vater im Schild? Was hatte er vor? Sie merkte, daß sie völlig durcheinander war. Sie hätte gern Garth angerufen, aber es war zu spät. Er schlief sicher schon, und sie wollte ihn nicht wecken. Sie wollte ihn auf keinen Fall wecken und dabei hysterisch wirken. Sie mußte sich beruhigen. In einer zweiten Schublade fand sie eine Schachtel Rolaids. Sie kaute vier der säurehemmenden Tabletten. Sie fühlte sich kein bißchen besser.
Ruth rief Edek an. »Sind Zofia und Walentyna schon da?« fragte sie.
Edek war verblüfft. »Du weißt, daß sie hier sind?« sagte er.
»Ich würde dich wohl kaum fragen, ob sie angekommen sind, wenn ich nicht wüßte, daß sie hier sind«, sagte Ruth.
Sie wußte, daß ihre Stimme erregt klang.
»Ruthie, reg dich runter«, sagte Edek.
»Ich bin nicht aufgeregt«, sagte Ruth.
»Du bist aufgeregt«, sagte Edek. »Ich höre es an deiner Stimme. Woher weißt du, daß Zofia und Walentyna sind in New York?« fragte er.
»Zofia hat mich vom Flughafen aus angerufen«, sagte Ruth.
»Zofia hat dich angerufen?« sagte Edek. »Ich habe ihr gesagt, sie soll dich nicht anrufen, bevor ich hatte Gelegenheit, mit dir zu sprechen.«
»Du hattest jede Menge Gelegenheit, mit mir zu sprechen, auch wenn du immer viel zu tun hattest«, sagte Ruth.
» Oj, a broch «, sagte Edek. »Ich habe Zofia gesagt, sie soll dich nicht anrufen. Ich habe ihr gesagt, daß ich muß zuerst mit dir sprechen.«
»Was hast du ihr noch alles gesagt?« fragte Ruth mit soviel Sarkasmus in der Stimme, wie sie aufbringen konnte. Ihr war immer noch speiübel.
»Ruthie, Ruthie, reg dich runter«, sagte Edek.
»Wenn du gewollt hättest, daß ich mich nicht aufrege, dann hättest du mir sagen sollen, was hier vor sich geht«, sagte Ruth.
»Nichts geht vor sich«, sagte Edek.
»Wenn der ganze Schmonzes dir nicht weiter wichtig ist, warum hast du ihn dann vor mir geheimgehalten?« sagte Ruth. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Du hast immer so viel zu tun«, sagte Edek. »Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
»Du hast mir mehr Unruhe bereitet, indem du es vor mir verheimlicht hast«, sagte Ruth.
»Ich habe es nicht direkt verheimlicht vor dir, Ruthie, ich habe dir nur nichts gesagt davon«, sagte Edek.
Ruth beschloß, die semantischen Feinheiten dieses Satzes nicht zu kommentieren. Sie nahm noch zwei Rolaids aus der Schachtel. »Du stehst also mit Zofia in Verbindung, seit wir in Polen waren?« sagte sie. Sie zuckte innerlich zusammen. Warum hatte sie diese Wendung gebraucht? Als sie in Polen gewesen waren, hatte eine mehr als enge
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