Chuzpe
seinem Reiseziel.
„An der Stampiglie müssten S’ erkennen, dass des der Nachtzug g’wesen ist. Und wer weiß, vielleicht erinnert sich ja der Schaffner an mich“, fügte Bergmann hinzu.
„Gut. Das überprüf ich. Sie überlassen mir dieses Bewei… dieses Dokument?“ Bergmann nickte. „Na gut“, fuhr Bronstein fort, „das wäre vorläufig wohl alles. Ich muss Sie aber bitten, sich zu meiner Verfügung zu halten. Es wär besser, Sie täten in nächster Zeit nicht verreisen.“ Abermals nickte Bergmann.
Bronstein war schon aufgestanden, als ihm doch noch eine Frage einfiel: „Sagen Sie, Ihr Bruder, wieso ist der noch nicht aus dem Feld zurück?“
Bergmann sah überrascht auf. „Das ist eine gute Frage, die wir uns hier auch stellen. Er hat an der Ostfront gekämpft, und wir haben seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört. Wir fürchten, dass ihm irgendetwas passiert ist. Verwundung oder Gefangenschaft oder so etwas. Aber der Willi war immer schon a bisserl komisch.“
„So?“ Bronstein setzte sich wieder hin. „Inwiefern?“
„Der Willi ist ganze neun Jahre jünger als ich. Er ist 1898 geboren. Und das hat ihn irgendwie geprägt, fürchte ich. Zuerst wollt er immer beweisen, dass er alles besser kann als ich, und wie ihm das nicht gelungen ist, hat er sich immer mehr abgekapselt. Zuletzt hat er weder mit meinem Vater noch mit mir noch ein Wort gewechselt. Dann hat er auch noch die Schule geschmissen und sich freiwillig an die Front gemeldet. Im Mai’16 war das. Wir haben dann ewig lang nichts von ihm gehört, erst im Februar ’17 ist eine Weihnachtskarte von ihm gekommen. Aus der Ukraine war die. Dann herrschte wieder ein ganzes Jahr lang Schweigen, ehe wir heuer im Jänner eine weitere Karte aus Kiew gekriegt haben. Da sind aber wieder nur Neujahrswünsche draufgestanden. So eine Korrespondenzkarte, wissen S’ eh, wo man nur fünf Worte draufschreiben darf. Frohes Neujahr wünscht euch Willi, hat er g’schrieben. Und kein Wort mehr. Datiert war’s, daran kann ich mich noch erinnern, mit 1. 1. ’18. Und das war’s. Seitdem haben wir nichts mehr gehört und gesehen von ihm. Na ja, ich hab mich nie so gut mit ihm verstanden. Er war halt doch viel zu jung für mich. Mir geht er nicht ab, wenn S’ verstehen, was ich mein’.“
„Können Sie sich vorstellen, warum Ihr Bruder so wortkarg wurde?“
Bergmann wiegte zweifelnd den Kopf auf und ab. „Wissen S’, das is jetzt nur so a Theorie von mir, aber ich hab vor drei Jahr das Gefühl g’habt, er hat sich auch in die Edith verschaut. Das wär ja gar nicht unlogisch, gell, weil die Edith ist ja selber erst 22. Aber trotzdem war das natürlich absurd, denn für die Edith war der Willi halt immer nur der kleine Bruder von mir, den hat sie weiter nicht beachtet. Na ja, und just zu der Zeit, so Ende ’15, Anfang ’16, hat das dann mit mir und der Edith ang’fangen. Da hat er dann eines Tages beim Mittagessen einen mordstrum Aufstand g’macht. Der Juniorchef und so eine, hat er gebrüllt, aber der Papa ist ihm gleich in die Parade g’fahren und hat g’sagt, des geht ihn nix an. Na, und seitdem war zwischen dem Willi und uns Kriegszustand. Und ein paar Wochen später war er schon beim Heer.“
„Und aus diesem Ausbruch schließen Sie, er war selbst in die Edith verliebt?“
„Na, das nicht. Aber die Edith hat mir erzählt, wie er sie immer angestarrt hat. Wie er ihr nachgegangen ist, wenn sie beiuns gearbeitet hat. Sie hat g’meint, der Kleine verschlingt sie mit seinen Blicken. So was gibt einem dann schon zu denken, meinen S’ nicht auch, Herr Kommissar?“
Bronstein gab zu, dass diese Sicht der Dinge etwas für sich hatte. Aber für den Fall war es letztlich irrelevant, denn ein Mann, der sich irgendwo hinter den Karpaten befand, kam für den Mord an der Feigl definitiv nicht in Frage. Und doch schien es angezeigt, an geeigneter Stelle zu erfragen, ob man den Aufenthalt des Wilhelm Bergmann eruieren könne. „Wissen Sie zufällig, in welcher Einheit Ihr Bruder dient?“
„Zweite Landjäger. Die sind bei der Erzherzog Rainer. Tarnopol oder so“, mutmaßte Bergmann.
„Gut. Das wär’s jetzt wirklich. Ich werde schau’n, ob ich etwas über den Verbleib Ihres Bruders in Erfahrung bringen kann.“ Abermals stand Bronstein auf. Er hatte jedoch noch keinen Schritt getan, als er den Kopf drehte und auf Bergmann hinabsah: „Was sagt eigentlich Ihre Frau zu alldem?“
Bergmann stöhnte auf. „Erinnern S’ mich nicht daran.
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