Chuzpe
Kommissariats angekommen, wandte sich Bronstein noch einmal um: „Übrigens, Singer, ich bin Protestant.“ Mit einem süffisanten Grinser verließ er die Amtsstube. Singer sah ihm hasserfüllt nach und zischte: „Religion ist einerlei, die Rasse ist die Schweinerei.“ Doch das hörte Bronstein nicht mehr.
Stattdessen betrat er mit Pichler das Bezirksamt und schickte sich an, den zweiten Stock zu erklimmen. Im Meldeamt saß ein gelangweilter Beamter hinter dem Pult und war offensichtlich in den hinteren Teil einer Zeitung vertieft. Als er die beidenPolizisten auf sich zukommen sah, legte er das Blatt weg und setzte ein Lächeln auf: „Guten Morgen, die Herren! Womit kann ich dienen?“
„Wir bräuchten einen Auszug aus dem Melderegister. Eine gewisse Hannah Feigl aus der Margaretenstraße. Haus Nummer 76.“
Der Beamte erhob sich. „Das ist nicht weiter schwer. Die Meldedaten sind nach Häusern geordnet. Da sollten wir schnell was finden.“ Der Mann verschwand in einem Nebenraum und kam wenig später mit einer braunen Mappe zurück. „Bitte schön“, sagte er laut und vernehmlich, „Haus Nummer 76. Dann wollen wir einmal nachschauen.“ Er blätterte eine Weile in den Unterlagen und murmelte dabei die Namen der diversen Mieter. Schließlich wurde er fündig. „Da haben wir sie schon. Feigl Hannah, geboren 1898. Beruf Modistin. Was ist denn des? Na egal, des interessiert Sie ja ned, nehm ich an. In dem Haus gemeldet seit … 1913. Vorherige Adresse Mauthausgasse 1. Auch im fünften Bezirk. Geburtsort Gaunersdorf in Niederösterreich, zuständig eben dort. Konfession römisch-katholisch, Familienstand ledig. Die Anmeldung für die Wohnung Nummer 14 wurde vorgenommen am 14. August 1913. Tja, das ist alles, was ich Ihnen mitteilen kann, meine Herren.“
„Irgendwelche weiteren Mieter auf dieser Wohnung?“
„Zumindest nicht gemeldet.“
„Gut, dann holen Sie uns doch bitte die entsprechenden Auszüge für die Mauthausgasse.“
Die eben durchgeführte Prozedur wiederholte sich. Diesmal war den Akten zu entnehmen, dass Hannah Feigl seit 1911 auf der Adresse in der Mauthausgasse gemeldet gewesen war. Gemeinsam mit ihrem Vater Robert und ihrer Mutter Brigitte. Robert Feigl hatte als Beruf Diurnist angegeben, was, wie die drei Beamten wussten, eine noble Umschreibung für einen Taglöhner war. Geboren am 28. Oktober 1878, war auch errömisch-katholischer Konfession und gleichfalls nach Gaunersdorf zuständig. Vor diesem Hintergrund erstaunte es nicht, dass auch die Mutter eine Gaunersdorferin war. Sie war dort am 7. November 1879 geboren worden. Aber, und dieser Umstand erweckte Bronsteins Interesse, Brigitte Feigl war im August 1913 aus der ehelichen Wohnung in die Margaretenstraße übersiedelt. Dort aber, wie gesehen, nicht mehr gemeldet.
Bronstein richtete sich auf: „Das heißt“, begann er, „die Feigls hatten offenbar eheliche Probleme, weshalb sich die Mutter mit der Tochter vor fünf Jahren verdrückt hat. Aber wo ist sie jetzt?“
„Na ja“, ließ sich der Beamte des Meldeamts vernehmen, „ich habe nur die aktuellen Meldezettel ausgehoben, weil Sie ja nichts anderes verlangt haben. Ich kann aber Nachschau halten im Archiv. Da erfahren wir sicher mehr.“
Einige Minuten später hatte sich das vermeintliche Rätsel gelöst. Brigitte Feigl war im Februar 1918 an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung im Alter von 38 Jahren verschieden. Seitdem wohnte die Tochter offensichtlich allein in der Wohnung. Bronstein wandte sich an Pichler: „Wie weit ist die Mauthausgasse von hier entfernt?“
„Ach, ned weit. Vielleicht ein paar hundert Meter. Über die Reinprechtsdorfer Straße Richtung Gürtel. Des packen wir in zehn Minuten.“
„Na, dann pack ma’s“, sagte Bronstein jovial. Er bedankte sich beim Mann vom Meldeamt und wünschte ihm noch einen schönen Tag. Der Vater als nunmehr einziger Überlebender der Familie hatte sein Interesse geweckt. Gaunersdorf, dachte er, während er neben Pichler die Schönbrunner Straße stadtauswärts trabte, das lag irgendwo an der Brünner Straße im nördlichen Niederösterreich. Weinviertel, in der Nähe von Poysdorf, soweit er sich erinnerte. Sehr ländliche Gegend. Wahrscheinlich war der alte Feigl ein Kleinbauer gewesen, dessen Wirtschaft die Familie nicht mehr ernährte. Oder er war nur derZweitgeborene und wollte dem älteren Bruder nicht auf ewig den Knecht machen. Jedenfalls war er vor sieben Jahren nach Wien gekommen, um hier sein Glück zu
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