Chuzpe
einmal die richtige Medizin. So kann er nicht gesund werden.“
Doch die Mutter ließ sich nicht beruhigen. Sie weinte hemmungslos vor sich hin und murmelte in einem fort: „Oh mein Gott, oh mein Gott!“
Bronstein ergriff die Initiative. „Weißt du was? Du passt jetzt noch eine kleine Weile auf ihn auf, und ich hole einstweilen den Arzt.“
Bronstein ging wieder auf die Straße, überquerte sie und fragte in dem Wirtshaus, das sich gegenüber der elterlichen Wohnung befand, nach einem Telefon. Mit diesem meldete er sich beim Hausarzt seiner Eltern. Er erläuterte diesem die aktuelle Lage und votierte dafür, den Vater ins Spital zu bringen. Als der Arzt erfuhr, dass Bronstein senior fast 40 Grad Fieber hatte, stimmte er dem Ansinnen des Sohnes zu. Er erklärte, sich um eine Rettung zu bemühen, und versicherte Bronstein, in knapp einer Stunde in der Wohnung zu sein.
„Sie werden bald da sein“, offenbarte er seiner Mutter, ehe er sich eine weitere Zigarette anzündete. Diese war kaum aufgeraucht, als auch schon der Arzt vor der Tür stand. Die Untersuchung war rasch abgeschlossen, dann befahl er den Sanitätern, den Kranken in den bereitgestellten Wagen zu bringen. Die Mutter hielt ihrem Mann noch einmal ganz fest die Hand, dann marschierten die beiden Krankenpfleger schon mit der Trage, auf welcher der alte Bronstein lag, die Stufen hinab. Die Mutter konnte nicht mehr an sich halten und erklärte, sie wolle mitkommen. Die Mediziner hatten nichts dagegen. Und so blieb Bronstein allein in der Wohnung zurück.
Er war überzeugt, das Richtige getan zu haben. Im Krankenhaus konnte man seinem Vater sicher effizienter helfen, als sie es hier vermochten. Mit dieser für ihn beruhigenden Erkenntnis verließ er schließlich auch die Wohnung und sperrte ab. Als er sich wieder auf der Wiedner Hauptstraße befand, schlug die Uhr der Paulanerkirche eben sechs Uhr.
Bronstein hatte also noch zwei Stunden Zeit, ehe er sich wieder am Karmeliterplatz einfinden sollte, und da ihn sein Weg ohnehin durch die Innenstadt führen würde, beschloss er, im „Herrenhof“ vorbeizuschauen, um möglicherweise noch ein paar Neuigkeiten aufzuschnappen.
Er hatte gerade die Sirk-Ecke erreicht, als die ersten Zeitungsjungen die Abendblätter anzupreisen begannen. Was sie riefen, weckte sein Interesse, und so kaufte er einem der Knaben ein Exemplar der „Abendpost“ ab, der Spätausgabe der „Wiener Zeitung“. Merkwürdig, er konnte die hinausposaunte Meldung dort nicht finden. Auf der Titelseite wurde lediglich verkündet, dass nach den Sozialisten nun auch die Fortschrittspartei und das Zentrum für die Republik und gegen die Monarchie optierten, während die Liberalen immer noch zum Kaiser standen. Gleichzeitig wurde berichtet, dass praktisch ganz Deutschland in Arbeiterhand sei. Überallhätten sich Arbeiterräte gebildet, welche die Macht übernommen hätten.
Nun, das war so weit nichts Neues. In Kiel hatte es vor zehn Tagen begonnen, mittlerweile wehte sogar schon in Städten wie Düsseldorf, Leipzig oder Darmstadt die rote Fahne. Bronstein blätterte um und stieß endlich auf jenen Artikel, der ihn zum Kauf der Zeitung veranlasst hatte. Deutschlands Reichskanzler Max von Baden hatte verkündet, dass der Kaiser für sich und seinen Sohn dem Thron entsagt habe. Der Parteichef der SPD, Friedrich Ebert, sei daraufhin zum Präsidenten des Landes ernannt worden. Und wenig später habe man vom Reichstag aus die Republik ausgerufen. Mit dieser Information endete der lakonische Artikel. So wenige Zeilen, und sie reichten dennoch aus, Bronstein tief im Innersten zu erschüttern. Bei aller Kritik, die auch er immer wieder an der Monarchie gehabt hatte, dass es sie einmal nicht mehr geben könnte, das war ihm stets völlig denkunmöglich erschienen. Wilhelm Zwo, der sein Land über dreißig Jahre lang beherrscht hatte, war von heute auf morgen zum Flüchtling geworden. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis auch die Habsburger aus der Hofburg vertrieben wurden.
Bronstein verlangsamte seine Schritte. Gegenüber der Augustinerkirche blieb er schließlich ganz stehen. Sicher, so dachte er, das deutsche Kaiserreich hatte es nicht einmal ein halbes Jahrhundert gegeben, dass ein solches Konstrukt zugrunde ging, das mochte noch zu verkraften sein. Aber der Untergang Österreichs? Das Ende der Habsburger? Seit wann regierten die? Seit über sechs Jahrhunderten! Sie beherrschten einst die Welt, und selbst was jetzt noch ihrer Krone
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