Clancy, Tom
mehr herausbekommen als mit Zangen und Elektroden.
Das
Szenario der »tickenden Bombe«, über das so oft geredet wurde, war ohnehin ein
Märchen. Die meisten Anschlagspläne gegen die USA seit dem 11. September waren
bereits im Planungsstadium aufgeflogen, während die bösen Jungs noch Leute
anwarben, Geldmittel beschafften oder ihre Logistik organisierten. Das Bild
eines Terroristen, der den Finger auf dem Auslöseknopf hat, während die guten
Jungs versuchen, aus seinem Spießgesellen Informationen herauszupressen,
entsprach fast nie der Wirklichkeit. Es stammte aus Hollywood und hatte mit
echter Geheimdienstarbeit genauso viel zu tun wie James Bond. Während ihrer
ganzen Laufbahn hatte sie nur einmal einer »tickenden Bombe« gegenübergestanden,
und John Clark hatte diese Angelegenheit in wenigen Minuten geklärt, indem er
ein paar Finger gebrochen und die richtigen Fragen gestellt hatte.
»Klischees
sind nicht ohne Grund entstanden«, hatte Ed ihr einmal erklärt. »Sie stimmen
normalerweise so sehr, dass sie einfach abgenutzt worden sind.« Was Mary Pat
anging, so hielt sie das Klischee »Mit Honig fängt man mehr Fliegen als mit
Essig« für absolut zutreffend, wenn es um Verhöre ging. Die Moral war dabei
nur ein Aspekt auf der Liste der Pros und Kontras. Worauf es ankam, war
Effektivität. Man tut das, was die besten Ergebnisse bringt, Punkt.
»Also
wieder zurück auf Anfang?«, fragte sie ihren Boss.
»Nichts
da. Der alte Freund auf der anderen Seite des Großen Teichs, von dem Sie
gesprochen haben ... Rufen Sie den mal an, plaudern Sie ein bisschen mit ihm.«
Mary Pat
lächelte, schüttelte aber den Kopf dabei. »Das ist das, was man einen Jobkiller
nennt, Ben.«
Er zuckte
mit den Schultern. »Man lebt nur einmal.«
Melinda
war angenehm überrascht, ihn wiederzusehen. Schon vor einer Woche hatte er sie
abgeholt und zu einem Hausbesuch zu »John« gefahren. Die Bezahlung war
anständig, und John hatte nichts Perverses von ihr verlangt, der Job war also
ganz okay, vor allem was das Geld anging.
Dieser Typ
kam ziemlich elegant daher, oder jedenfalls hielt man es hier für elegant. Für
Melinda selbst war es ein bisschen ungewöhnlich, in aller Öffentlichkeit so
aufzutreten, obwohl sie ein Callgirl war und keine gewöhnliche Straßenhure,
aber dieses Hotel hatte ein besonders nobles Restaurant, außerdem kannte sie
den Chefkoch und wusste, dass er sie mochte. In ihrem Job war eine
Gratisleistung zu Werbezwecken manchmal ausgesprochen nützlich, und um ehrlich
zu sein, er war ein anständiger Typ, wie so viele ihrer Klienten verheiratet
und daher nicht nur nett, sondern auch zuverlässig. Ganz sicher konnte man nie
sein, aber Männer in seiner Position, die hier in der Gegend wohnten, kannten
im Allgemeinen die Regeln. Und sollte das tatsächlich mal schiefgehen, hatte
sie immer noch Little Mr. Colt in der Handtasche.
Blickkontakt.
Ein wissendes Lächeln. Er war süß, dieser, hm, Arbeitsvermittler. Ein sehr kurz
geschnittener Bart, ungefähr so, wie Errol Flynn ihn in einem Piratenfilm
getragen hätte. Aber sie war schließlich nicht Olivia de Havilland. Sie war
hübscher, dachte Melinda, und das war keineswegs nur Einbildung. Sie arbeitete
hart an sich, um schlank zu bleiben. Männer mochten Frauen, deren Taille sie
mit den Händen umfassen konnten. Vor allem dann, wenn sich über der Taille
noch hübsche Titten wölbten.
»Hallo«,
sagte sie freundlich. Ein Lächeln, das nur oberflächlich freundlich war, das
aber dem Empfänger verhieß, dass sich hinter diesem Lächeln viel mehr verbarg.
»Guten
Abend, Melinda. Wie geht's Ihnen an diesem warmen Abend?«
»Sehr gut,
danke.« Bei diesem Lächeln ließ sie nun ihre Zähne ein wenig aufblitzen.
»Sind Sie
heute Abend schon vergeben?«
»Nein,
momentan noch nicht.« Noch mehr blitzende Zähne. »Ich kenne noch nicht mal
Ihren Namen.«
»Ernest«,
antwortete er mit nachsichtigem Lächeln. Der Mann hatte einen gewissen Charme,
aber irgendwie fremdländisch, dachte Melinda. Kein Europäer. Von irgendwo
anders. Sein Englisch war okay, ein gewisser Akzent ... Er hatte sein Englisch
wohl irgendwo anders erlernt. So musste es sein. Aber er hat es gut gelernt
und ... Und was? Was war anders an ihm?, fragte sie sich. Sie begann, bestimmte
Einzelheiten aufmerksamer zu registrieren. Schlank, größer als sie, hübsche
dunkle Augen, irgendwie seelenvoll. Weiche Hände. Jedenfalls kein Bauarbeiter.
Mehr ein Geldtyp, dieser Ernest, was ganz bestimmt
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