Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Schrei aus. Parsefall starrte den Mann an. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass der Fremde Grisini war.
Er hatte sich umgezogen. Seine übliche Garderobe war zwar schmierig und verschlissen, doch früher einmal elegant gewesen. Den ramponierten Gehrock hatte einst ein renommierter Herrenschneider angefertigt und sein Hut war aus echtem Biberhaar. Die Kleidung, die er jetzt trug, ließ ihn wie einen Bettler erscheinen. Er war vom Hals bis zu den Knien in einen Webmantel aus grober Wolle gehüllt. Seine Füße steckten in klobigen Stiefeln und seine Hose war ausgefranst. Die eingerissene Krempe eines Schlapphuts warf einen Schatten über sein Gesicht.
Selbst seine Haltung hatte sich verändert. Er bewegte sich schwerfällig mit gebeugten Schultern. Grisinis Hände – seine langgliedrigen, theatralischen, gestikulierenden Hände – hingen schlaff herab wie leere Handschuhe. Er war ein Bettler wie zehntausend andere. Ein Mann, so freudlos und gewöhnlich, dass niemand ihn eines zweiten Blickes würdigen würde. Nur an den scharfen, zornigen Augen erkannte man noch den Puppenmeister.
Er nahm Lizzie Roses Jacke von der Stuhllehne und schmiss sie dem Mädchen hin. »Geh raus!«, befahl er knapp. »Geh mit dem Hund raus. Auf der anderen Straßenseite steht ein Polizist. Du musst ihn ablenken. Unterhalte dich mit ihm – fai la civetta, spiel die Kokette. Sorg dafür, dass er dem Haus den Rücken zudreht.«
Lizzie Rose zitterte ängstlich. Sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Ich kann nicht«, sagte sie stockend. »Ruby ist nass. Sie kann nicht –«
»Ubbidisci!« Grisinis Befehl war wie ein Peitschenhieb. » Subito! Ich muss das Haus verlassen. Sofort! Und ohne, dass man mich sieht! Du gehorchst mir oder du wirst es bereuen!«
»Ich kann nicht«, wehrte sich Lizzie Rose verzweifelt. »Er würde es mir nicht abnehmen …«
Grisini holte aus. Seine Finger krümmten sich wie ein Haken und krallten sich in einen von Lizzie Roses Zöpfen. Er riss sie so heftig vom Boden hoch, dass ihr der Hund aus den Armen glitt. Ruby fiel runter und jaulte vor Schmerz auf.
»Woher willst du wissen, was er dir glaubt? Was weißt du schon von ihm?« Grisini schlang ihre beiden Zöpfe um seine Hand und zerrte das Mädchen dicht heran. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille, während er ihr in die Augen starrte. Dann: »Habt ihr miteinander gesprochen?«, fragte er gedämpft. »Hast du mich hintergangen? Perfida! Ingrata! «
»Nein«, stieß Lizzie Rose hervor. »Nein!« Ihre Stimme schwoll zu einem gellenden Schrei an. Grisini stieß ihren Kopf nach unten und schlug mit aller Wucht zu. Er traf sie im Nacken.
Lizzie Roses Knie gaben nach. Mit ausgestreckten Händen wollte sie den Sturz abfangen, da riss Grisini sie wieder in die Höhe. Wild kläffend sprang Ruby um die beiden herum. Es knallte wie eine Peitsche, als der Puppenmeister ein zweites Mal zuschlug. Beim dritten Schlag schnitt der Ring, den Grisini am Finger trug, in Lizzie Roses Nacken und hinterließ eine lange Wunde, aus der Blutstropfen quollen.
Ein eigenartiger, greller Ton erklang, schrill wie eine Blechflöte. Parsefall war gar nicht bewusst, dass er aus seiner Kehle kam, nur dass sein ganzer Körper in Bewegung geriet. Wie eine Katze sprang er Grisini auf den Rücken und packte ihn am Kragen. Der versuchte, ihn abzuschütteln, woraufhin Parsefall seinen Würgegriff nur noch verstärkte. Er schwang sich über Grisinis Schulter, sodass sich die beiden Brust an Brust befanden. Sein Knie schnellte vor und traf Grisini direkt zwischen den Beinen.
Grisini fluchte. Parsefall klammerte sich fest und zielte nochmals mit dem Knie auf dieselbe Stelle. Im Arbeitshaus hatte er gelernt, zu kämpfen, und seine Methoden waren simpel und brutal. Er trat so lange zu, bis der Puppenmeister sich krümmte, worauf Parsefall wie zuvor Ruby auf den Boden purzelte. Blitzschnell sprang er wieder auf. Lizzie Rose war neben ihm.
»Raus hier!« Parsefall fasste sie bei der Hand. »Raus!«
Mit Ruby auf den Fersen stürmten sie zur Tür und hasteten Hals über Kopf die Treppe hinunter. Es war keine Zeit, ein Streichholz zu entzünden oder nach dem Halteseil zu greifen, doch das war gar nicht nötig: Noch nie waren Parsefall oder Lizzie Rose so trittsicher. Sie erreichten das Erdgeschoss und hämmerten an Mrs Pinchbecks Tür.
»Mrs Pinchbeck!«, brüllte Parsefall. »Mrs Pinchbeck, lassen Sie uns rein!«
Die Tür war von innen verriegelt. Dahinter veranstalteten
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