Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
selbst. Begehre ihn mit ganzem Herzen. Wenn dein Verlangen stark genug ist, reißen deine Fäden und Grisinis Fluch ist gebrochen. Dann musst du in mein Zimmer kommen und den Opal stehlen! Du wirst das Medaillon mit Gewalt öffnen müssen, um den Stein herauszunehmen, und …« – die Stimme der Hexe wurde rauer und tiefer; etwas Wildes flackerte in ihren Augen – »… ich werde mich zur Wehr setzen. Nein, schreck jetzt nicht zurück! Wenn du all deine Kraft einsetzt – deine ganze Kraft! –, dann kannst du mich besiegen. Denke daran, was du zu gewinnen hast! Du weißt, das ist deine letzte Hoffnung, deine einzige Hoffnung, wieder zu einem Menschen und glücklich zu werden.«
Aber Sie sind kein Mensch, begehrte Clara in Gedanken auf. Und ich glaube nicht, dass Sie glücklich sind . Sie blickte zum Gesicht der Hexe auf. Ganz bewusst und erschreckend mühelos überschritt Clara die Grenze zwischen ihnen und mit einem Mal war sie Cassandra. Sie war alt und krank, durstig und von Fieber geplagt. Schmerzen nagten an ihren Gelenken, fraßen sich tief in ihre linke Hand. Sie wurde von Albträumen verfolgt. Sie wollte sterben. Sie hatte panische Angst vor dem Sterben. Sie war umzingelt von Flammen …
Clara riss ihre Hand los und kam stolpernd auf die Füße. »Sie sind nicht glücklich!«, schrie sie anklagend. »Sie haben Schmerzen, furchtbare Schmerzen! Ich kann sie spüren … ich kann Ihre Gedanken sehen, genau wie Sie meine gesehen haben. Der Zauber wirkt in beide Richtungen, oder?«
»Ja«, gestand Cassandra. Sie atmete schwer und ihr Gesicht war aschfahl.
»Es geht Ihnen elend«, sagte Clara, »und Sie haben Todesangst wegen diesem Ding! Und jetzt wollen Sie mich dazu bringen, es zu nehmen … aber das werde ich nicht tun! Das ist eine Falle!«
»Jemand muss es nehmen«, entgegnete die alte Frau verzweifelt. »Irgendjemand. Wenn nicht du, dann einer von den anderen.«
Den Anderen . Clara umklammerte ihr eigenes Medaillon. Sie dachte an die Haarschnipsel darin: das Einzige, was von ihren Geschwistern übrig geblieben war. »Sie können ihnen nichts tun! Sie sind tot!«
»Das sind sie nicht. Sie sind hier«, blaffte Cassandra.
Clara starrte sie entgeistert an. Da dämmerte ihr, dass sie die alte Frau falsch verstanden hatte. Die Hexe meinte Parsefall und Lizzie Rose. »Da-das … lasse ich nicht zu! Ich werde sie warnen«, stammelte sie.
»Wie denn? Du bist eine Puppe. Du kannst nicht sprechen. Du kannst dich nicht bewegen …«
Clara schüttelte sich wie ein nasser Hund. Sie wollte die Flucht ergreifen, als könnte sie der Macht der Hexe mit bloßer körperlicher Kraft entkommen. Sie griff nach dem Türknauf, doch musste sie feststellen, dass gar keiner da war. Verwirrt hielt sie inne. Sie konnte den Weg aus dem Turm nicht finden. Sie konnte nicht unterscheiden, was Wand und was Spiegel war, was greifbar und was Spiegelung. Sie wirbelte im Uhrzeigersinn um die eigene Achse und der unebene Dielenboden brachte sie zum Stolpern. Im Nu war sie wieder auf den Beinen. Doch jetzt verdunkelten sich die silbernen Spiegel. Wohin sie auch schaute, blickten ihr Frauen mit eingefallenen, angsterfüllten Gesichtern entgegen, Frauen, eingehüllt in sich emporschlängelnde Rauchsäulen.
Clara schrie gellend auf. »Helft mir!« Sie umklammerte ihr Medaillon mit dem Saphir, als wären Die Anderen Engel, die sie retten könnten. Eine einzige Hoffnung flackerte in ihrem panischen Verstand auf: Cassandra hatte ihr entgegengesehen, als sie ins Turmzimmer eingetreten war. Also musste Cassandras Stuhl der Tür gegenüberstehen. Clara wandte der Hexe den Rücken zu und machte einen Satz in Richtung Tür.
Sie erreichte sie nie. Das rötliche Licht verlosch. Als Clara wieder klar sehen konnte, starrte sie auf Parsefall hinunter, der wie ein schlafender Riese vor dem Feuer lag. Und sie – klein, reglos, eine Puppe wie zuvor – saß wieder im Sessel, den einen Fuß unter die Kniekehle des anderen Beins geschoben.
32. Kapitel
Die Begegnung mit Madama
M adama ging es nicht gut. Als Lizzie Rose sich bei Mrs Fettle erkundigte, wann sie wohl die Bekanntschaft der Herrin von Strachan’s Ghyll machen würden, erklärte die Haushälterin, dass Madama eine schlechte Nacht verbracht habe und außer dem Arzt niemanden empfangen werde. Die Kinder dürften nicht weggehen – darauf hatte Madama ausdrücklich bestanden –, aber sie sollten sich sehr still verhalten und das gelte auch für den Hund, sonst
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