Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
herum.« Sie drehte die Karte um und jetzt sah Clara das Bild richtig. Das war kein Tänzer, sondern ein Mann, dessen Fuß in einer Schlinge steckte, sodass er mit dem Kopf nach unten hing.
»Siehst du, wie hilflos er ist? Seine Hände sind ihm auf den Rücken gebunden. Das ist deine Karte. Ich dachte, ich wäre diejenige, die gefangen ist …«
»Gefangen?«, wiederholte Clara.
»Du bist gefangen, oder nicht? Du bist in Gaspares Fluch gefangen. Du bist eine Puppe.«
»Bin ich nicht«, widersprach Clara. Sie hob die Handflächen, um zu zeigen, dass sie nicht an Fäden hingen.
Das Lächeln der alten Frau wurde breiter und gab den Blick auf ihre hässlichen Zähne frei. »Schau in den Spiegel.«
Clara fuhr herum. Sie sah die Flammen, die in den Spiegeln schwammen wie ertrunkene Sonnen. Da waren der hohe Schrank und die Frau auf ihrem thronähnlichen Stuhl. Doch von ihr, Clara, fehlte das Spiegelbild. Sie öffnete den Mund, um zu fragen: Wo bin ich? Warum kann ich mich nicht im Spiegel sehen?
»Du bist im Inneren des Steins.«
Clara hätte am liebsten geweint. »In welchem Stein?«, fragte sie und biss die Zähne zusammen. Sie durfte vor dieser grässlichen alten Frau keine Schwäche zeigen.
Grässlich bin ich? Aber Cassandras grausames Lächeln war verflogen und sanft sagte sie: »Komm her. Ich zeige es dir.«
Clara verspürte kein Verlangen, sich der Hexe zu nähern, aber ihre Füße ließen ihr keine Wahl und sie kniete sich vor die alte Frau hin, als wären sie Großmutter und Enkelin. Cassandra beugte sich zu Clara hinunter und ihre von Altersflecken gezeichneten Hände tasteten suchend nach der Kette um ihren Hals. An der Kette hing eine Art Käfig aus goldenen Drähten, der sich öffnen ließ und einen roten Edelstein von der Größe eines Auges freigab. Er fiel in die narbige Hand der Hexe. So etwas hatte Clara noch nie gesehen. Während sie den Stein bestaunte, fiel es ihr nicht schwer, sich vorzustellen, dass sie sich darin befand. Er war eine ganze Welt, ein rotes Meer, ein blutiger Mutterleib, ein schlagendes Herz. Sie wollte ihre Augen davor verschließen. Sie wollte ihn bis zum Ende ihrer Tage betrachten.
»Siehst du, wie schön er ist? Und seine Schönheit ist nicht alles. Er besitzt Macht … die Macht, zu gewinnen, die Macht, zu heilen, die Macht, die Mauern zwischen den Seelen der Menschen einzureißen. Deshalb kann ich auch mit dir sprechen. Ich habe dich in den Feueropal gebracht, damit ich in dein Herz blicken kann.«
Clara streckte die Hand aus. Sie wagte es nicht, den Stein zu berühren, und ließ stattdessen ihre Fingerspitzen an Cassandras Handgelenk ruhen. Die Berührung schien die Bindung zwischen ihnen zu verstärken.
»Hättest du den Stein gern, Clara? Er könnte dir gehören. Allerdings kann ich ihn dir nicht einfach schenken. Du musst ihn mir stehlen. Hast du dazu den Mut, Clara?«
Clara versenkte den Blick in die Tiefen des Steins. Sie spürte, dass der Geist der Hexe sie umfing, sie einlullte.
»Hör zu und hab keine Angst«, murmelte Cassandra. »Lass mich dir sagen, wer du bist.«
Clara machte keinen Mucks. Sie wollte hören, was die alte Frau dachte.
»Ich sehe dich, Clara Wintermute«, murmelte die Hexe, »ich sehe dich zu Hause, wo du unglücklich bist – so wie ich damals, als ich ein Kind war. Meine Mutter hat mich im Stich gelassen und mein Vater hat mich vernachlässigt, gerade so wie deiner es tut. Du bemühst dich, deinen Eltern Freude zu machen, sie zu trösten, aber sie lieben dich nicht. Du weißt, dass sie dich nie lieben werden, nicht wahr?« Sie streichelte Claras Hand. »Und so bricht dir das Herz und dein Zuhause ist ein Gefängnis. Ich kenne das alles. Deshalb will ich, dass du den Stein bekommst. Mit den Zauberkräften des Feueropals gewinnst du das Herz deiner Mutter, erfüllst du das Haus deines Vaters mit Freude. Überleg nur, Clara! Wenn du tanzen willst, dann tanzt du. Was auch immer du dir wünschst, ist dir möglich. Nur musst du zunächst den Mut aufbringen … den Mut, mich zu bestehlen –«
»Wie?«, unterbrach Clara sie. Sie musste nicht weiter überredet werden. Sie sah sich selbst tanzen, während Rosenblätter auf sie herabregneten. Wie Donner dröhnte der Applaus in ihren Ohren und ihre Eltern saßen in der ersten Reihe und klatschten.
»Ich habe einen Zauber bewirkt, Clara. Einen Zauber, der dich wieder lebendig machen wird. Der Schlüssel dazu ist deine Begierde. Du musst den Stein nur begehren und du wirst wieder du
Weitere Kostenlose Bücher