Clarissa
der Narbe - den Bruder des Mannes, der sie hierher gebracht hatte.
»Hat dein Bruder das Lager wieder verlassen? Ich wollte mich bei ihm bedanken, obwohl ich mir gar nicht so sicher bin, ob das, was mir hätte geschehen können, schlimmer gewesen wäre als dieses Lager. «
»Mein Bruder erwartete keinen Dank«, sagte der Mann schroff, »und an deiner Stelle würde ich lieber weiterüben, denn Lord Raine schaut gerade zu uns herüber. «
Mit zitternden Armen setzte Clarissa ihre Übung fort, bis Raine nach einer Weile zurückkam und ihr zeigte, wie man das Schwert mit gestrecktem Arm halten mußte und es vom Boden in eine waagerechte Lage brachte. Und diese Übung mußte sie abwechselnd mit dem linken und rechten Arm wiederholen.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er ihr das Schwert wieder abnahm und sich auf den Rückweg zum Lager machte. Ihre Arme und Schultern fühlten sich an, als wäre sie aufs Rad geflochten worden. Sie ging schweigend hinter ihm her.
»Bring was zu essen, Blanche«, rief er über die Schulter auf dem Weg zu seinem Zelt.
Dankbar ließ sich Clarissa auf einen Schemel fallen, während Raine sich einen anderen unterschob und anfing, die Spitze einer langen Lanze zu schärfen. Den Kopf an die Zeltstange gelehnt, war sie schon fast eingeschlafen, als Blanche mit Tonschüsseln voll Schmorfleisch und mit in Käsewasser weichgekochten Linsen hereinkam und ihnen dazu noch mehr Schwarzbrot servierte und gewürzten heißen Wein in ihre Becher goß.
Als Clarissa den hölzernen Löffel hob, fingen ihre Arme an, krampfhaft zu zucken, aus Protest, was sie ihnen an diesem Tag zugemutet hatte.
»Du bist zu weich«, brummelte Raine mit vollem Mund. »Es wird Monate dauern, bis aus dir etwas wird. «
Schweigend nahm Clarissa die Bemerkung hin, obwohl sie wußte, daß sie lieber sterben würde als so eine Tortur wie heute eine Woche durchzuhalten. Sie aß so viel sie konnte, zu müde, um darauf zu achten, was sie verzehrte. Dann nickte sie ein, doch Raine packte sie am Arm und zog sie wieder hoch.
»Der Tag ist noch jung«, sagte er und lachte; offenbar machte er sich über ihre Erschöpfung lustig. »Das Lager braucht sein täglich Brot, und wir müssen es beschaffen. «
»Täglich Brot? « stöhnte sie. »Laß sie doch verhungern und mich schlafen. «
»Verhungern! « schnaubte er. »Sie würden sich gegenseitig umbringen im Kampf um das bißchen Essen, was noch bleibt, und nur die Stärksten würden überleben. Und du«, sagte er, während er die Finger wie einen eisernen Ring um ihren Oberarm schloß, »du würdest schon in den ersten Minuten getötet. Also gehen wir lieber auf die Jagd und sorgen dafür, daß du und die anderen am Leben bleiben. «
Sie befreite sich mit einem Ruck aus seinem eisernen Griff. Dummkopf, dachte sie, kannst du nicht sehen, daß ich eine Frau bin? Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er das Zelt, und sie rannte ihm nach, folgte ihm bis zum Rand des Lagers, wo die Pferde ihr Quartier hatten. Auf dem Weg dorthin sah sie, daß die Leute des Lagers ihr Essen verzehrten oder ausruhten. Bis auf Raine schienen sie alle Feierabend zu machen.
»Wäre es möglich, daß du reiten kannst? « fragte er, wenngleich seine Stimme wenig Hoffnung verriet.
»Nein«, flüsterte sie.
»Was hast du nur aus deinem Leben gemacht? « fragte er kopfschüttelnd. »Mir ist noch kein Junge begegnet, der nicht reiten könnte. «
»Und ich habe noch keinen Mann getroffen, der so wenig von den Leuten weiß, die nicht zu seinem Stand gehören. Habt Ihr Euer Leben lang auf einem juwelenbesetzten Thron gesessen und Euch die Langeweile mit Schwertkämpfen und Reiten vertrieben? «
Während er einen schweren Holzbock-Sattel auf sein Pferd warf, sagte er: »Du hast eine scharfe Zunge, und wer, wenn nicht wir, die wir uns aufs Kämpfen vorbereiten, würde dich beschützen, wenn es zu einem Krieg kommt? «
»Der König natürlich«, antwortete sie schnippisch.
»Heinrich! « fauchte Raine, einen Fuß im Steigbügel. »Und wer, glaubst du, schützt Heinrich? Wen außer seinen Edelleuten könnte er wohl zu den Waffen rufen, wenn er angegriffen wird? Gib mir deinen Arm«, sagte er und hob sie, als wäre sie so leicht wie eine Feder, vom Boden und setzte sie hinter sich auf den harten Rumpf seines Pferdes. Ehe sie etwas erwidern konnte, trabte er los, daß ihr die Zähne im Mund klapperten.
Kapitel 5
Nach einem, wie es schien, stundenlangen Rütteln und Schütteln auf dem knochigen Hinterteil
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