Claustria (German Edition)
Stimme eines Polizisten, Annelieses erschrockene Schreie, Schritte auf der Kellertreppe. Die Schritte verhallen im Büro.
Angelika will schreien, aber nur ein Japsen kommt aus ihrer Kehle. Die Schritte entfernen sich, die Mutter schlägt die Haustür zu. Das Martinshorn wird immer leiser, als der Wagen um die Ecke biegt.
Angelika weint. Sie geht zum Schlafzimmer. Fritzl schnarcht noch immer. Sie kauert sich wieder in die Speisekammer und ruft erneut an.
,,Wir haben Ihren Anruf aufgezeichnet. In Bälde werden Sie vorgeladen. Auf Irreführung der Polizei steht eine Haftstrafe von drei Monaten und eine Geldbuße von siebzigtausend Schilling.“
Es wurde aufgelegt.
Angelika rief die Feuerwehr.
,,Ein Brand in der Ybbsstraße.“
Sie dachte, die Feuerwehrleute würden das Haus vom Keller bis zum Dachboden auf der Suche nach Rauch durchkämmen. Sie würden es nicht riskieren, ihre Suche aufzugeben, bevor sie nicht die kleinste Ritze im Haus inspiziert hätten. Sie hatten doch bestimmt schon gehört, dass Leute geglaubt hatten, mit einem Kübel Wasser dem Feuer Herr geworden zu sein, während der Brand in einem Winkel weitergeschwelt hatte.
Die Sirenen der Löschwagen. Das Geräusch der Spritzschläuche, die entrollt werden. Ganze Wasserfälle im Garten, den man einfach so flutet, um zu verhindern, dass das Feuer sich im ganzen Viertel ausbreitet. Ein unsichtbarer Brand. Annelieses Schreie. Die Feuerwehr packt wieder zusammen. Wieder die Stille der Nacht.
Eine Stunde hockt sie reglos unter der Decke, das Telefon in der Hand wie einen nassen Knallfrosch. Sie faltet die Decke wieder ordentlich zusammen, legt sie ins Zimmer. Das Telefon steckt sie wieder in die Hosentasche des Vaters. Er schläft.
Der Körper in Zeitlupe, gerade mal ein Luftfädchen bewegt sich durch die Nasenlöcher, die unmerkliche Arbeit der Lungen. Sie legt sich neben ihn. Mit offenen Augen sieht sie im Halbdunkel die Zimmerdecke. Sie traut sich nicht, aufzustehen, um das Licht in der Küche auszumachen.
Um sieben Uhr morgens wachte er auf, war sauer, weil er verschlafen hatte. Er schüttelte seine Kleider aus.
,,Was ist passiert?“
,,Du bist vor dem Fernseher eingeschlafen.“
Ungläubig grummelnd fuhr er sich im Bad mit dem Kamm durchs Haar. Mit schweren, lauten Schritten ging er durchs Labyrinth.
Oben in der Wohnung hörte sie ihn schreien, hörte Annelieses Geplärr, die sich zu verteidigen versuchte.
Er kam zurück, schlug Angelika ohne ein Wort nieder. Sie fragte sich, ob er sie sterben lassen wollte. In der Dunkelheit kam sie wieder zu sich. Der Geschmack von Blut im Mund. Der Atem der schlafenden Kinder um sie herum. Sie waren irgendwann aufgewacht, durch die Nacht geirrt, hatten ihre leichenstarre Mutter geschüttelt, sie beweint und waren erschöpft wieder eingeschlafen.
Ein Monat Dunkelheit, nur das gleißende Licht durch die offene Schleuse, wenn er ihnen zweimal einen Sack mit altem, trockenem oder feuchtem, weil angebissenem Brot hineinwarf, das er aus der Mülltonne der Familie von oben gefischt hatte. Von Zeit zu Zeit ein paar Minuten Wasser. Es ist zu kostbar, um die Toilettenspülung zu betätigen. Der Gestank von Menschen im Käfig, deren Streu man nicht wechselt.
Das tat Angelika nie wieder. Fritzl sicherte das Telefon mit einem Code, aber das wusste sie nicht.
Zwei Jahre darauf brachte sie Roman zur Welt.
Ein schönes Baby wie fast alle, die aus ihrem Bauch gekommen waren. Sie hatten das hektische Leben in der Embryonalhülle arbeitender Frauen nicht kennengelernt, die den ganzen Tag lang von Büro zu Büro rennen, täglich Hunderte Stufen hinaufsteigen, um sich vom Direktor vernaschen zu lassen, und rot vor Verwirrung wieder hinuntersteigen in ihr Großraumbüro, wo ihre Kollegen hinter ihren Bildschirmen über sie spotteten. Der Arbeiterinnen, die in einer Fabrik Kartons schleppen müssen. Vertreterinnen, die stundenlang in ihrem Auto durchgerüttelt werden und die Produkte der Kosmetikfirma verkaufen müssen, die sie auf Provisionsbasis beschäftigt. Oder der nicht berufstätigen Frauen, die verrückt sind nach Sport und ständig an Ergometern in die Pedale treten und herumfuchteln oder Trampolin springen, um sich nach drei Stunden Tennis zu erholen, wenn sie nicht ihre letzten Schwangerschaftswochen dazu nutzen, den alten Schuppen im Garten zu einem Spielzimmer umzubauen, und Schubkarren voller Zement, Bruchstein und Sand schieben.
Angelika wagte es, Fritzl zu widersprechen.
,,Wäre es nicht besser, ihn
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