Claustria (German Edition)
hinausging.
Die Polizei schaffte die Matratze danach wieder in das Loch, von dem man damals glaubte, dass es für immer versiegelt bleiben würde. Angelika bat den Justizminister, der sie im Spital besuchte, den Ort nicht zu entwürdigen, an dem sie vierundzwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
,,Warum?“
,,Das würden Sie nie verstehen.“
Der Minister gab nach. Er, der den Keller mit dem Flammenwerfer hatte läutern und das Feuer hinter den geschlossenen Schleusen hatte ersterben lassen wollen.
Angelikas Milchfluss war üppiger als nach den beiden vorangegangenen Geburten. Roman war auch hungriger – ein kleiner, gieriger Schreihals. Er besaß einen Lebenswillen, der Fritzl zu der Prognose veranlasste, dass er nie krank werden würde.
,,Er wird alt werden. So wie ich.“
Dieser Prophezeiung widersprach die Wirklichkeit nicht.
Fritzl fotografierte Roman mit seinem BlackBerry .
Um zwei Uhr nachts fing Roman an zu schreien. In der Stille klang sein Gejammer so nah, als würde es aus einem der verlassenen Apartments im Erdgeschoss kommen.
Fritzl nahm oft sein Handy, das auf dem Nachtkästchen lag: Roman ganz scharf, strahlend, so leuchtend, dass man blinzeln musste. Der selbstzufriedene Vater, der verliebte Großvater versuchte im Gesicht des Neugeborenen, das gerade erst geschlüpft war, Ähnlichkeiten mit seinem alten, grauhaarigen Konterfei zu finden.
Eines Nachts wagte es Anneliese, die Augen aufzuschlagen. Nach einem Moment des Schweigens machte sie den Mund auf.
,,Ist es ein Mädchen?“
Fritzl stopfte das Handy unter die Decke.
,,Was meinst du?“
,,Das Baby auf dem Display.“
,,Es ist ein Foto von dem Brachgelände.“
,,Ohne Brille sehe ich nicht gut.“
Sie schlief wieder ein.
Am Abend des nächsten Tages besuchte er seine Kellerfamilie. Petra wickelte Roman gerade auf dem Küchentisch, während Martin Spaghetti in einen Topf gab. Angelika lag auf dem Bett und sah sich eine Sendung über Yves Saint Laurent an.
Neben die Spüle legte er eine Rassel aus blauem Gummi und eine Tasche mit Lebensmitteln. Martin war enttäuscht, dass es keine Cola gab. Fritzl sah sein trauriges Kindergesicht nicht.
Petra war besorgt.
,,Papa, wir haben bald keine Windeln mehr.“
Es waren nur noch zwei in der Packung, die noch aus Julius’ Zeiten stammte. Windeln für Kinder von fünfzehn Monaten, die sie zerschneiden musste, bevor sie sie in den Strampelanzug schob.
,,Windeln sind schwer.“
Fritzl folgte Petra ins Schlafzimmer, sie legte Roman in die Kiste. Er beugte sich über ihn.
,,Das ist das schönste von allen meinen Kindern.“
Angelika konzentrierte sich auf eine Modeschau und hörte ihn nicht.
Er fotografierte den Kleinen, hielt dabei die Nachtkästchenlampe mit der linken Hand, um sein Gesicht auszuleuchten.
Die Polizei fand fast zweitausend Fotos von Roman auf der Festplatte von Fritzls Rechner und etwa fünfzig Abzüge, chronologisch abgeheftet, in einem Ordner. Sein restliches Leben lang hatte Fritzl die Gefängnisverwaltung mit Anfragen bombardiert, auf dass man ihm die Bilder zurückgäbe. Sie wurden nicht beantwortet. Nach dem Prozess wurden die Fotos zusammen mit allen anderen Beweismitteln vernichtet.
Die letzte Phase absoluten Glücks in Josef Fritzls Leben.
Roman wuchs gleichzeitig mit den Immobilienpreisen. Fritzl hegte die Hoffnung, auf seine alten Tage noch ein Reich zu gründen und vor seinem Tod einen Nachfolger auf den Thron zu bringen. In Österreich begann der Immobilienmarkt im Herbst 2007 zu wackeln, sieben Monate später wurde Fritzl festgenommen.
Nach dem Beispiel ihres ältesten Bruders waren alle Kinder von Anneliese am Tag ihrer Volljährigkeit aus dem Haus gegangen. Die Eltern sahen sie nie wieder. Sie hegten den leisen Wunsch, ihre Enkel kennenzulernen und zu prüfen, wie sich ihre Gene auf diese Generation ausgewirkt hatten.
Manchmal unternahm Anneliese einen Versuch. Die Kinder knallten das Telefon ohne Antwort hin. Wenn sie sich vor Ort begab, kam sie nicht weiter als bis zum Gang. Im Jahr 2001 traf sie ihre Jüngste mit einem Baby auf dem Arm in der Drogerie am Hauptplatz. Anneliese stürzte sich mit ausgestreckter Hand auf das Kind, wollte sie ihrem Nachfahren aufs Gesicht legen, wie um die Qualität der Ware zu begutachten.
Ihre Tochter machte einen Satz nach hinten wie eine Obsthändlerin, die Angst hatte, man könne ihre Pfirsiche in den Auslagen betatschen. Die Blicke der beiden Frauen kreuzten sich voller Hass. Aus Furcht vor einer Szene
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