Claustria (German Edition)
Empört über seine unablässigen und banalen Bittgesuche, hatte Gott sich nicht herabgelassen, zu helfen.
Ein paar Wochen vor seiner Haftentlassung sah Fritzl, wie der Pastor zu Boden geworfen, sein ganzer Oberkörper gefesselt und er von drei Wärtern weggeführt wurde. Angesichts seines blassen, verzerrten Gesichts und seiner zittrigen Beine konnte man sich vorstellen, dass sie, um dem heiligen Mann innere Ruhe mitzugeben, all die Todesangst trugen, die er empfunden haben musste.
„Gott wird mich rehabilitieren.“
Ein gemessen gesprochener Satz, dennoch war er kaum zu hören, so sehr beengten die Fesseln seinen Brustkorb und verhinderten, dass seine Lungen sich ganz mit Luft füllten. Zehn Minuten später sah Fritzl durch das kleine Fenster, wie sich die Falltür des Schafotts öffnete und der Geistliche durch den Strang starb. Aus Angst, eines Tages dasselbe Schicksal zu erleiden, war Fritzl daraufhin grundsätzlich gegen die Todesstrafe.
Anneliese kam ihn nur fünfmal besuchen. Das Besuchszimmer war ein Gemeinschaftsraum, Wärter gingen zwischen den kleinen Tischen herum, deren Mittelfuß in den Boden eingelassen war. Daran war der rechte Fuß des Gefangenen mit einer Kette festgemacht, die gerade so lang war, dass er um den Tisch herumgehen konnte. Als Fritzl am Tag nach seiner Entlassung nach Amstetten zurückkam, hatte Anneliese zwei Tage zuvor abgetrieben.
Sie hatte etwas mit dem Krankenpfleger, der einmal pro Woche die Kinderkrippe besuchte. Er zog sie auf die Ladefläche seines alten Lieferwagens – ein ehemaliger Krankenwagen des Roten Kreuzes, den er für wenig Geld bei einer Versteigerung erstanden hatte. Ohne ein Wort hob er ihren Rock. Ein Instant-Beischlaf, spröde und grob wie zwei Ohrfeigen.
Sie wurde schwanger. Als man die Rundung sah, fasste sie eines Tages Mut und gestand ihm ihre Not. Er beschimpfte sie, strich seine Kleider glatt, dann öffnete er die Wagentür und warf sie in den Schnee hinaus.
Sie flehte ihn so sehr an, dass er ihr schließlich eine Adresse gab. Ein Haus an der Landstraße am Stadtrand. Eine geschickte junge Frau, die hundert Schilling dafür nahm. Anneliese ging zu Fuß zurück, Schneeschauer, zehn Grad minus, der Schwindel versuchte, sie zu Fall zu bringen, sodass sie ohnmächtig vom Sturz am Straßenrand erfrieren würde.
Blass und aufgelöst holte sie Fritzl am Bahnsteig ab.
„Du machst ein Gesicht, als würdest du gerade aus dem Gefängnis kommen.“
Sie senkte den Kopf.
„Halt das.“
Er zog den Rucksack ab und gab ihn ihr. Wie ein Lastesel trug sie ihn bis zum Bus.
„Ist die Mutter noch immer rüstig?“
„Sie beklagt sich oft.“
„Ich habe ihr wohl gefehlt.“
In Amstetten trug ihm nie jemand die Vergewaltigungen nach, die er begangen hatte. Manchmal sah er sogar überraschend Bewunderung im Blick bestimmter Männer aufblitzen – deren Glanzleistungen sich darauf beschränkten, ihre Frauen zu nötigen, wenn sie so besoffen nach Hause kamen, dass sie fast das Haus vollkotzten.
Vierzig Jahre später, nachdem Fritzl ein Geständnis abgelegt und Angelikas Aussagen bestätigt hatte, verspürte er am zweiten Tag seiner Haft auf einmal das Bedürfnis, von seiner Mutter zu sprechen.
„Sie geht mir immer im Kopf herum. Ich frage mich, ob ich nicht tatsächlich einmal etwas mit ihr gehabt habe.“
Er wurde nachdenklich. Er erinnerte sich nicht mehr, ob er nicht doch eines Nachts in die Dachkammer hinaufgestiegen war, um seine Fantasie auszuleben, oder ob er durch das Kreuzverhör der Polizeibeamten so benommen war, dass er geträumt hatte.
„Nein, da war nichts. Damals war sie wirklich schon viel zu alt.“
Er unterbrach die Polizistin, die die Vernehmung wieder aufnehmen wollte:
„Ich will einen Anwalt.“
„In diesem Stadium des Verfahrens haben Sie kein Recht auf einen Anwalt.“
Er stützte seinen Ellbogen auf dem Knie ab und sein Kinn in die Hand und schwieg wie der Denker von Rodin.
„Dann beantworte ich keine Fragen mehr.“
Eine Dreiviertelstunde lang versuchten die Beamten vergebens, ihn mit Fragen zu bedrängen. Es wurde Abend, sie ließen ihn wieder in seine Zelle bringen. Die Vorgesetzten wurden umgehend von Fritzls Ukas in Kenntnis gesetzt.
Magister Gretel feierte seinen sechzigsten Geburtstag im Familienkreis, als sein Handy in seiner Jackentasche vibrierte.
„Würden Sie meine Verteidigung übernehmen?“
Seine Frau hatte gerade die Kerzen aus dem Kuchen gezogen und schnitt ihn an, während ihr heranwachsender Sohn
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