Claustria (German Edition)
unaufhaltsames Rennen. Die zweite Luke passierten wir mit den Füßen voraus, mit verdrehter Wirbelsäule, angeschlagenem Kopf. Wir hatten zu viel Adrenalin in uns, um ohnmächtig zu werden. Wir erreichten das obere Ende der Treppe. Ich drehte mich um. Die Treppe war verlassen, die Meute in ihrem Heim eingeschlossen, und die Entkommenen hatten sich lieber versteckt, als auf Menschenjagd zu gehen.
Wir flitzten durch den Garten. Der Ex-Bulle lief in einer geraden Linie, die mutmaßlichen Heckenschützen machten ihm nun keine Angst mehr, nachdem er mit den Ratten konfrontiert gewesen war. Ohne langsamer zu werden, erreichten wir die Straße. Die Garagentür, das Gartentor ließ er sperrangelweit offen.
Auch auf der Straße rannten wir weiter. Wir verloren jede Orientierung. Wir liefen lediglich hin und her, als würde dieses Labyrinth oben noch weitergehen und als würden wir verzweifelt den Ausgang suchen.
Wir sausten an Ninas Auto vorbei. Ich dachte, ich würde weiterhin laufen, aber in Wirklichkeit schleppte ich mich vorwärts und spuckte all die Aschenbecher aus, die ich seit meiner Geburt gefüllt hatte. Nina hupte, fuhr los, überholte mich, stellte das Auto quer auf die Straße. Ich erkannte ihre Umrisse am Lenkrad. Auf der Kühlerhaube brach ich zusammen.
Alle Fenster offen trotz der kalten Nacht. So fuhren wir nach Wien. Ich schlotterte, kurbelte meine Scheibe wieder hoch. Nina protestierte.
„Nein, bitte nicht, Sie stinken zu sehr.“
Der beißende Gestank von Erbrochenem an meinen Kleidern, der hartnäckige Kellergeruch, der sich auf die Rückbank übertrug und dort bis zum Wochenende hing, als Nina den Mietwagen wieder abgab.
Am nächsten Tag rief Nina den Ex-Polypen an, um ein Treffen zu vereinbaren und ihm die fünfhundert Euro zu geben, die wir ihm noch schuldig waren. Sie hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Drei Tage später rief sie nochmals an. Sie traf auf eine verdutzte Frau, die glaubte, bei einem Radioquiz gewonnen zu haben.
„Danke schön, Antenne Steiermark !“
Nina legte auf.
,,Komisch, Sie wollten den Keller gar nicht unbedingt sehen.“
,,Ich habe ihn schon gesehen.“
Der Anwalt stellte sein Glas vorsichtig auf den Tisch, dann brach er in Gelächter aus.
,,Nicht mal ich habe ihn gesehen! Das Haus wird ohne den Keller verkauft. Die Stadtverwaltung wird ihn in den kommenden Wochen ausräumen und eine Tonne Beton hineinkippen.“
Diese Entscheidung wird der Gemeinderat zwei Wochen später wieder aufheben. Es wäre zu teuer geworden, den Keller zuzuschütten.
,,Zehn vor sechs. Sie werden zu spät zu Ihrem Termin kommen.“
Ich stand auf, bezahlte. Als ich ging, drehte ich mich noch einmal um und sah, dass der Anwalt noch immer anfallartig lachte – zu der Bank hin; dass ich nicht mehr dort saß, schien er gar nicht zu merken.
Ich ging zum Hotel zurück, es lag ein paar hundert Meter vom Hauptplatz Amstettens entfernt. Eine düstere Fußgängerzone im Regen, eine Filiale einer Kaufhauskette wie in jedem anderen westeuropäischen Marktflecken. Man konnte noch nicht einmal hoffen, dass ein rasendes Motorrad auftauchte und solche Orte aus ihrer Starre weckte. Ich ging in mein Zimmer, hängte meinen nassen Mantel auf und zog meine durchweichten Schuhe aus.
Wie alle, die nachts schlecht schlafen, halte ich ausgiebig Mittagsschlaf. Im Dunkeln legte ich mich aufs Bett, das Radio spielte leise und wiegte mich in den Schlaf. Ich träumte von vielen Treppen, Liegestühlen, vergilbten Zeitungen und Korridoren.
Eine Viertelstunde später wachte ich benebelt wieder auf. Ich fühlte mich schmutzig wie der Fußboden im Haus. Ein Bad. Eine Zigarette, ganz unerlaubt, am Fenster.
Das Telefon klingelte, als ich die Wasserspülung drückte wie ein Verdammter, um meinen Zigarettenstummel verschwinden zu lassen.
Es war der Anwalt.
,,Ich warte in der Lobby auf Sie.“
Ich ging hinunter. Er saß an der Bar vor einem Bier.
,,Wurde der Termin um sechs abgesagt?“
,,Ich habe eine Nachricht hinterlassen, dass ich verhindert sei.“
Ich fragte ihn nicht, ob er mir etwas sagen wollte, und bestellte beim Ober den fünfzehnten Kaffee des Tages. Der Anwalt trank schweigend sein Bier. Als es leer war, bestellte er per Handzeichen das nächste.
Sein Handy lag vor ihm. Es blinkte oft auf, er nahm keinen einzigen Anruf an. Wir saßen in einer Ecke, an einem abgelegenen Tisch neben der Tür zu den Toiletten. Ich wartete, bis er sich zum Reden entschloss, und lauschte solange der
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