Clemens Gleich
leihen?"
"Ich bring dich um! Du Missgeburt!!"
"Hahahahahahahaa!"
Die beiden wurden von höherer Warte wohlwollend beobachtet. Die höhere Warte lag nicht in den Wolken im Heim eines Gottes, sondern in einer Baumhütte am Rande des Wipfeldorfs, wo zwei alte Männer Pfeife rauchend die Wiese überblickten. Auf das Leben der beiden da unten hatten sie deutlich mehr Einfluss als jeder Gott.
"Hat sich prächtig entwickelt, die Missgeburt", schmatzte der eine Alte. Er war mit Pflanzenfasern, Federn und Tüchern geschmückt, die jedes ästhetisch geschulte Auge derart beleidigten, dass sie nur die Statuszeichen seiner wichtigen Position sein konnten. Niemand anderes als der Priesterhäuptling, denn das war er, würde es wagen, sich so anzuziehen. Der andere Alte trug keine Federn, sondern einen Stock. Beide trugen hauptsächlich komplexe Tätowierungen statt Stoff.
"Mmm", brummte der Federlose. Er schaffte es, damit gleichzeitig Zustimmung wie Ablehnung auszudrücken. "Ja, Pi ist eine richtige Ratte geworden."
"Wie einer von uns."
"Mmmm. Wie einer von uns." Die Alten zogen schweigend einige Lungen voll Rauch, während Pi mit Efin Kreise ins Gras zog.
"Und das trotz seiner Behinderungen", fing der Bunte der beiden wieder an. "Ich finde das erstaunlich."
"Mmm. Erstaunlich, dass er überhaupt leben konnte."
"Es wurde so vorhergesagt."
"Mmm. Heutzutage wird doch alles vorhergesagt. Das heißt gar nichts mehr."
"Wir leben in einer Zeit der Vorhersagungen!", rief der Priesterhäuptling.
"Mmm. Trotzdem waren die Vorhersagungen früher besser. Es waren vor allem weniger."
"Ich glaube, dass er für unser Volk Großes tun wird. Wie vorhergesagt."
"Mmm."
"Er hat jetzt lange genug herumgespielt. Er ist alt genug für sein Schicksal", entschied der Priesterhäuptling plötzlich. "Ruf ihn zu uns."
"Mmm." Der mürrische Alte starrte in Richtung Pi, bis ihm die Augen tränten. Dann öffnete er den Mund und schien etwas aus vollem Hals zu rufen, aber zu hören blieb nur ein leises "Pi". Dieses wiederum formte sich in ein fratzenhaft verzerrtes Abbild seines Kopfes, schoss hinaus aufs Feld und schrie in ein blaues Ohr: "PIIII!!"
Der Gerufene blieb stehen und hielt sich das schmerzende Ohr. Als er wieder aufsah, stand Efin keuchend vor ihm, bereit, ihn mit dem Messer zu filetieren. Doch die Pflicht rief ihn. Keine Zeit zu spielen! Also zischte er unter Efins langen Armen durch und hatte ein paar perfekt sitzende Bewegungen später die Waffenhand in einem schmerzhaften Hebel, das Messer stichbereit zwischen zwei Rippen geparkt und Efins Gesicht in den Staub gedrückt.
"Tut mir leid, mein Freund", keuchte Pi, "aber ich kann jetzt nicht länger spielen. Lass uns das mal wieder machen, ja?" Er lachte, öffnete seine Hose und entleerte sich seufzend auf seinen sich windenden Spielkameraden. "Aah. Gut. Jetzt muss ich dich verlassen. Aber meld dich, wenn du eine neue Frau hast." Damit schlug er ihn ebenso zärtlich wie sorgfältig bewusstlos.
Kurz darauf stand Pi oben im Baumhaus. Mürrisch zupfte er imaginäre Fusseln aus dem Fell. Was wollten die alten Säcke jetzt schon wieder von ihm? Ständig wollten sie irgendwas. Erst musste er ein komisches Ritual über sich ergehen lassen, um Mitglied der Gemeinschaft zu werden, dann ein paar Jahre später die Mannesprobe und jetzt das.
"Du brauchst gar nicht so zu tun, als verlangten wir ständig irgendwas von Dir", paffte der Federmann. Verdammt, dachte Pi, konnten die Gedanken lesen?
"Mach dich sauber und setz dich", murrte der Andere. Er tat wie ihm geheißen, aber so, als hätte er ohnehin vorgehabt sich mal ein bisschen zu säubern. Eine Hand griff nach der Kette aus Zähnen um seinen Hals. Es waren besondere Zähne, denn genetisch gesehen waren es seine eigenen. Um ihn herum bildete sich ein durchscheinendes, idealisiertes Selbstbild, das an der Pfeilwunde am dichtesten zu sein schien. Langsam näherte sich die Realität dort dem Bildnis an, bis die Wunde verschwunden war. Klappernd fiel ein Stück Pfeilspitze zu Boden. Pi ignorierte es und setzte sich an den Steinkreis mit den glühenden Kohlen in der Mitte der Hütte.
"Es wird Zeit, dass du endlich etwas für uns tust und nicht andauernd nur kostest!", fing der Priesterhäuptling an. "Wir wollen endlich..."
"Pizar!", unterbrach ihn der andere mit gerade soviel Schroffheit in der Höflichkeit, dass es keine Hoheitsbeleidigung war. "Wir müssen das allein machen, nur ich und er."
"Ich verstehe", behauptete der Boss und
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