Cobra - Forsyth, F: Cobra - Cobra
Daniels auf ihn aufmerksam geworden war. Der Bandenchef hatte ihn als Mädchen für alles engagiert. Für die Arbeit eines Gorillas hatte Coker kein Talent – dafür hatte Daniels eine Handvoll Schläger mit Schultern so breit wie Lastwagen in seinem Gefolge –, aber Coker war gerissen und ein guter Laufbursche. Darum hatte man ihn über Nacht auf eine Tonne Kokain aufpassen lassen.
Der Pflichtverteidiger brachte seinen hoffnungslosen Kautionsantrag zu Ende, und die Richterin schenkte ihm ein kurzes, aufmunterndes Lächeln.
»Der Angeklagte bleibt sieben Tage in Untersuchungshaft«, sagte sie. Coker wurde von der Anklagebank und die Treppe hinunter in den Zellentrakt geführt. Von dort brachte man ihn in einen geschlossenen weißen Lieferwagen, der von einer vierköpfigen Spezialeskorte auf Motorrädern begleitet wurde – nur für den Fall, dass der Essex Mob auf die fabelhafte Idee kommen sollte, einen Befreiungsversuch zu unternehmen.
Anscheinend waren Daniels und seine Leute davon überzeugt, dass Justin Coker den Mund halten würde, denn sie waren nirgends zu sehen. Sie waren allesamt untergetaucht.
In früheren Jahren pflegten britische Gangster sich nach Südspanien abzusetzen, wo sie Villen an der Costa del Sol besaßen. Nachdem ein Abkommen zwischen Spanien und Großbritannien die schnelle Auslieferung ermöglicht hatte, war die Costa del Sol kein sicherer Hafen mehr. Benny Daniels hatte sich ein Ferienhaus in Nordzypern gebaut, einem von niemandem anerkannten Ministaat, mit dem Großbritannien kein solches Abkommen hatte. Man vermutete, er habe sich nach der Razzia im Hangar dorthin zurückgezogen, bis Gras über die Sache gewachsen wäre.
Scotland Yard wollte Coker trotzdem in London unter Beobachtung haben. Essex hatte nichts dagegen, und so transportierte man ihn von Chelmsford nach London ins Belmarsh-Gefängnis.
Eine Tonne Kokain in einem Hangar in der Marsch war eine gute Story für die überregionale Presse und eine noch bessere für die Lokalmedien. Der Essex Chronicle brachte auf seiner Titelseite ein großes Foto von dem Coup. Neben dem Stapel der Kokainblöcke stand Justin Coker. Zum Schutz seiner Persönlichkeit war sein Gesicht verpixelt worden, wie das Gesetz es vorschrieb. Aber die aufgerissene Juteumhüllung war deutlich zu erkennen, genau wie die hellen Blöcke darunter und die Chargennummer auf dem Verpackungsmaterial.
Jorge Calzados Europareise verlief nicht angenehmer als das, was José-Maria Largo in Nordamerika erlebte. Überall empfing man ihn mit wütenden Vorhaltungen und verlangte die Wiederaufnahme der regelmäßigen Lieferungen. Die Ware wurde knapp, die Preise stiegen, die Kunden verlegten sich auf andere Rauschmittel, und was die europäischen Gangs noch übrig hatten, wurde zehn zu eins verschnitten. Viel schwächer durfte der Stoff nicht sein.
Die galicischen Banden brauchte Calzado nicht zu besuchen; die hatte der Don selbst schon beschwichtigt. Aber auch die übrigen Großkunden und -importeure waren wichtig.
Zwischen Irland und der russischen Grenze sind mehr als hundert Banden im Kokainhandel tätig, doch die meisten kaufen ihre Ware bei dem einen Dutzend Riesen, die direkte Geschäftsbeziehungen mit den Kolumbianern unterhalten und Unterkonzessionen vergeben, wenn der Stoff wohlbehalten auf europäischem Boden angekommen ist.
Calzado nahm Kontakt mit Russen, Serben und Litauern auf, mit Nigerianern und Jamaikanern, mit den Türken, die das Geschäft in Deutschland beherrschten, obwohl sie aus Südosteuropa kommen, mit den Albanern, die ihm Angst einjagten, und mit den drei ältesten Banden Europas: der sizilianischen Mafia, der neapolitanischen Camorra und der größten und meistgefürchteten von allen, der ’Ndrangheta.
Wenn die Republik Italien auf der Karte aussieht wie ein Reitstiefel, dann bildet Kalabrien die Stiefelspitze, südlich von Neapel und durch die Straße von Messina von Sizilien getrennt. In diesem rauen, sonnendurchglühten Land gab es einst griechische und phönizische Kolonien, und die Sprache dort, die für andere Italiener kaum verständlich ist, wurzelt im Griechischen. Der Name ’Ndrangheta bedeutet schlicht »Ehrenwerte Gesellschaft«. Anders als die hochprominente Mafia in Sizilien oder die in letzter Zeit berühmter gewordene Camorra in Neapel halten sich die Kalabreser etwas auf ihre praktisch unsichtbare Existenz zugute.
Dennoch ist die ’Ndrangheta zahlenmäßig die größte und international am weitesten verbreitete
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