Cobra
Innenhof, von einem der oberen Fenster aus betrachtet, schon eindrucksvoll genug, war dies umso mehr vom Parterre aus. Obstbäume, Sträucher und kleine Skulpturen waren im schwachen Schein kleiner, leuchtender Kugeln zu erkennen, die in einen Überhang des ersten Stocks eingelassen waren. Ein Stück weiter rechts hörte sie das stete Plätschern wie von einem kleinen Brunnen, und mit der leichten Brise wehten die Düfte mehrerer verschiedener Blumenarten heran. »Er ist wunderschön«, murmelte sie, fast ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Mein Urgroßvater hat ihn angelegt, als er das Haus erbaute«, erzählte Daulo, und es war unmöglich, den Stolz in seiner Stimme zu überhören. »Mein Großvater und mein Vater haben ihn ein wenig verändert, dennoch erinnert er mich noch immer stark an das alte Qasama. Haben Sie zu Hause auch so einen Garten?«
»Unser Haus ist nur eines von mehreren, die an einen gemeinschaftlichen Innenhof grenzen«, sagte Jin und erinnerte sich an die Vids, die sie ausgewertet hatte. »Es ist allerdings nicht so groß wie dieses. Und bestimmt nicht so schön.«
Die Worte waren kaum heraus, als urplötzlich ein schwacher Schrei durch die Nachtluft herangetragen wurde.
Jin zuckte zusammen, ihre Gedanken sprangen zurück nach Aventine, in den Wald, wo ihr Trupp mit Stachelleoparden gekämpft hatte …
»Alles in Ordnung«, raunte Daulo ihr ins Ohr, und plötzlich merkte sie, dass er dicht neben ihr stand. »Nur ein Razorarm, der über die Mauer klettern will. Das ist alles.«
»Das ist alles ?«, fragte Jin und hatte Mühe, ihren Magen zu beruhigen. Die Vorstellung, dass ein Stachelleopard frei durch die schlafende Siedlung läuft … »Sollten wir nicht irgendetwas tun?«
»Alles in Ordnung, Jasmine Alventin«, wiederholte Daulo. »Der Drahtzaun ist hoch genug, er kann nicht herein. Entweder gibt er nach einer Weile auf, oder er bleibt mit einer Pfote oder Feder hängen, in diesem Fall wird die Streife ihn töten.«
Der Schrei war erneut zu hören, wütender diesmal. »Sollten wir uns nicht wenigstens vergewissern, dass alles unter Kontrolle ist?«, beharrte sie. »Ich habe gesehen, was Razorarme anrichten können, wenn sie wütend werden.«
Daulo zischte zwischen den Zähnen hindurch. »Also schön. Offenbar befindet er sich in unserem Sektor der Siedlung. Sie können hier warten, ich bin in ein paar Minuten zurück.« Er ließ sie stehen und steuerte auf ein längliches Nebengebäude zu, das geduckt in einer Ecke stand.
»Warten Sie doch«, rief Jin ihm hinterher. »Ich möchte mit Ihnen gehen.«
Er warf ihr über die Schulter einen befremdeten Blick zu. »Reden Sie keinen Unsinn«, schnaubte er und verschwand durch eine Seitentür im Nebengebäude. Ein paar Sekunden verstrichen, dann schwenkte, begleitet von einem leisen Summen, eine größere Tür auf der Vorderseite des Gebäudes nach oben. Zum Vorschein kam ein niedriges Fahrzeug, das in so vollkommener Lautlosigkeit über die Zufahrt glitt, wie sie nur ein ausgesprochen hoch entwickelter Elektromotor erzeugen kann. Eine zweite, reich verzierte Tür ging auf, so dass der Wagen den Innenhof verlassen konnte.
Eine Sekunde später war Jin allein.
Na großartig, schäumte sie und blickte wütend auf das Tor zum Innenhof, das sich gerade wieder schloss. Wofür hält der mich eigentlich, für irgendein nutzloses Stück?
Natürlich tut er das, erinnerte sie sich und schnitt ein Gesicht. Durch und durch patriarchalische Gesellschaft, schon vergessen? Das wusstest du doch vorher schon. Also entspann dich, Mädchen, und nimm es nicht so schwer, in Ordnung?
Leichter gesagt als getan. Allein die Vorstellung, ein Bürger zweiter Klasse zu sein, wenn auch nur vorübergehend, nagte stärker an ihr, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Aber wenn sie nicht auffliegen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Rolle weiterzuspielen.
Oder sich wenigstens nicht dabei erwischen zu lassen, wenn sie aus derselben fiel …
Irgendwo vom Westen her ließ sich nun verstärkte Betriebsamkeit vernehmen. Jin programmierte ihre optischen Verstärker und suchte sowohl den Hof als auch die Fenster und Türen ab, die auf ihn hinausgingen. Niemand zu sehen. Sie trabte zum westlichen Rand des Innenhofs, ließ den Blick abermals schweifen, diesmal unterstützt durch ihre Infrarotsensoren. Das Ergebnis war dasselbe: Sie war allein und unbeobachtet. Die Zähne aufeinanderbeißend betrachtete sie die Wand, die vor ihr aufragte, schätzte kurz
Weitere Kostenlose Bücher