Cobra
»Normalerweise arbeiten die Minenarbeiter in einer Zweiwochenschicht und haben dann in Weald eine Woche frei, richtig?«, fragte Chrys. »Vielleicht will Challinor bei Schichtwechsel zuschlagen.«
»Klingt vernünftig«, gab Jonny ihr Recht. »Je nachdem, wie es üblicherweise abläuft, wird Challinor die Minen angreifen, wenn sich nur eine Schicht dort befindet oder alle drei. Im ersten Fall wird die Übernahme für ihn leichter, im zweiten bekommt er noch mehr Geiseln, beides ergibt also Sinn.« Er sah auf seine Uhr. »Noch drei Tage bis dahin, vorausgesetzt, sie arbeiten da oben nach einem nachvollziehbaren System. Das sollte reichen.«
»Wofür?«, fragte Chrys argwöhnisch.
»Um flussaufwärts zu den Minen zu fahren und dort Alarm zu schlagen, natürlich – am besten breche ich sofort auf.« Er erhob sich.
»Warte mal, Jonny, das ist doch verrückt«, sagte Eldjarn. »Erstens liegen vierzig Kilometer äußerst gefährlichen Waldes zwischen uns und ihnen. Zweitens würde man dich vermissen, lange bevor du dort eintriffst.«
Jonny setzte sich langsam wieder hin. »Das habe ich nicht bedacht«, gestand er. »Glaubst du wirklich, Challinor wird mich so genau überwachen?«
Eldjarn zuckte mit den Achseln. »Auch wenn du heute Morgen … nicht eingegriffen hast, bist du immer noch der Einzige in der Stadt, der ihm gefährlich werden kann. Dein Verschwinden würde mit Sicherheit bis zum Morgen entdeckt, und ich will mir gar nicht erst vorstellen, welche Verzweiflungstaten Challinor dann möglicherweise für unumgänglich hält. Die Idee ist gut, aber jemand anderes wird sie ausführen müssen. Ich zum Beispiel.«
»Du?« Chrys erschrak. »Das ist doch lächerlich – selbstmörderisch obendrein. Ohne Waffen und mit den Stachelleoparden auf Wanderung hättest du keine Chance.«
»Ich muss es versuchen«, meinte ihr Vater. »In einem Boot wäre ich vor den Stachelleoparden geschützt – von den allerentschlossensten einmal abgesehen. Außerdem gibt es im Ort doch noch eine Waffe, die ich mitnehmen könnte.«
»Welche denn – Seth Ramorras Machete?«, schimpfte sie.
»Nein.« Eldjarn zögerte, und Jonny sah, wie einer seiner Wangenmuskeln zuckte. »Kens Antipanzerlaser.«
Chrys fiel die Kinnlade runter. »Du meinst den in seinem – Dad! Das ist doch nicht dein Ernst!«
»Doch.« Er sah zu Jonny hinüber. »Ist es möglich, den Laser zu entfernen, ohne das Bein zu amputieren? Das wäre zu offensichtlich, als dass Challinor es übersehen könnte.«
»Es wurde schon einmal gemacht, während unseres kurzen Ausflugs ins Zivilleben«, antwortete Jonny mechanisch. Das gesamte Cobra-Arsenal von MacDonald stand ihnen zur Verfügung – und er hatte nicht einmal daran gedacht. »Hast du schon mit Pater Vitkauskas über die Vorbereitungen für das Begräbnis gesprochen?«
Eldjarn nickte. »Es wird sich um einen Doppelgottesdienst handeln, sowohl für Ken als auch für Ra Insley, morgen um neun auf dem Square. Ich glaube, die meisten aus der Stadt werden kommen – und in einer so großen Menschenmenge wird es Challinor nicht auffallen, wenn ich nicht dabei bin.«
Jonny stand auf. »Dann müssen wir den Laser jetzt sofort entfernen. Kens Leichnam ist drüben, richtig? Also gut, gehen wir.«
Wie in den meisten Ortschaften im Siedlungsgrenzgebiet auf Aventine verlangte es Eldjarns Job als Arzt, dass er bei Bedarf auch als Begräbnisunternehmer in Erscheinung trat, und die bescheidene, an das Haus angegliederte Kombination aus Büro und Behandlungsraum beherbergte hinten auch ein kleines Zimmer, in dem die Toten für das Begräbnis vorbereitet wurden. Jonny
und Eldjarn ließen Chrys im Büro zurück, wo sie Wache halten sollte, und gingen nach hinten.
Auf einem Tisch aufgebahrt sah MacDonalds Leiche keinen Deut besser aus als hingestreckt auf der Straße, aber wenigstens war der Geruch verbrannten Fleisches verschwunden – entweder verflogen oder künstlich neutralisiert. Jonny warf nur einen einzigen Blick auf die Wunde in der Brust, dann wandte er sich ab und konzentrierte sich auf das Bein. »Der Laser liegt genau hier, größtenteils vom Wadenmuskel verdeckt«, erklärte er Eldjarn und zeichnete die Lage auf MacDonalds Bein nach. »Eine Narbe gibt es wahrscheinlich nicht – ich habe auch keine -, aber als sie ihn beim letzten Mal entfernt haben, befand sich der Einschnitt ungefähr hier.« Er zeigte auf die Stelle.
Eldjarn nickte. »Jetzt sehe ich, wie sie ihn eingesetzt haben. Also gut, ich gehe mein
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