Cocoon, Band 01
sie. »Aber wir schaffen nur einen Mantel, einen Überzug, wenn du so willst. Zeit und Materie existieren auf einem anderen Planeten, und wir machen sie uns lediglich zunutze. Die Webstühle gestatten uns, Arras zu weben und aufzubauen. Unsere Wirklichkeit besteht aus Schichten über einer anderen Welt: der Erde.«
»Erde?« Das Wort klingt eigenartig und fremd, doch es rührt an eine lange verschüttete Erinnerung.
»Unter Arras liegen die Überreste der vorherigen Welt – einer Welt, die nicht länger bewohnt ist«, erzählt sie mir. »Es gibt nur noch wenige, die sich an den Namen Erde erinnern, und es ist gefährlich, außerhalb meines Ateliers darüber zu sprechen. Was du gesehen hast, war die unberührte Materie, die zwischen unserer alten Heimat und Arras fließt.« Sie starrt an die Stelle der Wand, wo die Lücke geklafft hat.
»Und damit ist die Sache erledigt?«, frage ich. »Wir haben unsere Welt auf einer anderen errichtet, und keiner weiß etwas davon?«
Loricel lächelt. »Oh nein, es gibt welche, die Bescheid wissen, Adelice, aber sie behalten das Geheimnis für sich. Die Wahrheit pflegt sich zu wandeln, um denen, die das Sagen haben, besser zu passen. Sie würden bestreiten, was ich dir gerade erzähle. Denn die Gilde hat große Anstrengungen auf sich genommen, um sicherzustellen, dass wir die Erde vergessen. Nur die höchsten Funktionäre wissen davon, und selbst denen, die in den Minen arbeiten, erklärt man nicht, was sie da genau tun, sondern flunkert ihnen etwas vor. Während meiner jährlichen Besuche dort muss ich enorm aufpassen, was ich sage.«
»Warum sollte man das geheim halten?«
»Dich würde es erstaunen, wie viel Unzufriedenheit in dieser Welt herrscht. Wie viele Anschläge die Gilde jedes Jahr vereitelt. Arras ist längst nicht so friedlich, wie sie die Bürger glauben machen. Viele würden Arras verlassen, und das wird die Gilde niemals gestatten.«
Ich rufe mir meine Eltern ins Gedächtnis, die die Gilde eindeutig gehasst haben und mich unbedingt vor ihr beschützen wollten. Ich dachte immer, sie wären nur ein wenig paranoid, bis ich hierhergekommen bin, doch jetzt frage ich mich, wie viel sie tatsächlich wussten. Und Josts schlecht gelaunter Schwager, der sich den Rebellen angeschlossen hat. Ja, es gab Leute, die Bescheid wussten, aber ich verstand schon damals, weshalb sie schwiegen.
»Aber du hast Zugang zu jemandem, der die Wahrheit kennt«, fährt Loricel fort.
»Zu wem?«
»Zu mir.«
»Und was ist das genau? Arras? Die Erde?« Ich habe Hunderte Fragen, aber ich mache den Mund lieber zu, bevor sie alle auf einmal hervorsprudeln.
»Meine Vorgängerin war die zweite Stickmeisterin, und obwohl sie die Geschichte besser kannte als ich, war bereits viel verloren gegangen, als ihre Lehrerin das Wissen an sie weitergab. Manches davon ergibt für uns heute keinen Sinn mehr, weil wir diese Dinge vergessen haben und mit ihnen auch die Worte und die Wirklichkeit, die sie beschreiben«, erklärt Loricel. »Auf der Erde herrschte ein Krieg, der alle Kriege beenden sollte. Viele Regionen, die man damals Länder nannte, wurden in den Kampf verwickelt. Eines erschuf eine Waffe, die so schrecklich war, dass man alles mit ihr hätte zerstören können. Sie nannten das Wissenschaft, doch es war lediglich eine Schöpfung der Männer, die die Welt beherrschen wollten. Jedenfalls, als das Land sich darauf vorbereitete, die Waffe einzusetzen, meldete sich ein weiterer Wissenschaftler mit einer anderen Idee. Obwohl er selbst an dieser Bombe mitgearbeitet hatte, interessierte er sich mehr für die Zeit und die Materie, aus der die Welt besteht. Die Bausteine dieser Materie nannte er Elemente.«
»Elemente? Wie die Rohstoffe, die wir beim Weben verarbeiten?«
Sie nickt. »Er fand eine Methode, die Zellstruktur seiner Welt aufzutrennen – Gras, Bäume, Luft, sogar Tiere – und sie in Relation zu der Zeit zu betrachten, die durch den Raum verlief, in dem diese Dinge existierten. Ihm war klar, dass, wenn er eine Maschine entwickeln könnte, die darstellte, wie Zeit und Elemente miteinander verwoben sind, die Menschen ihre Welt auf widernatürliche Weise beeinflussen konnten. Ich nehme an, dass du die Bohrer gesehen hast, mit denen man nach Rohstoffen schürft.«
Ich nicke und versuche, mir die Bilder ins Gedächtnis zu rufen, doch meine Erinnerung bleibt unscharf. Es sind monströse und mächtige Ungeheuer, die rauchen, qualmen und sich eingraben, aber worin? Auf den Bildern beim
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