Code Vision (Vereint) (German Edition)
hatte die ganze Geschichte verdient, auch wenn ich wusste, dass ich sie nicht einfach so würde erzählen können. Nicht heute.
Ich setzte mich langsam auf den anderen Stuhl und rieb mir kurz das Kinn. Mein Herz schmerzte und mir war schwindelig, als die Worte in mir aufkamen, die ich unbedingt aussprechen musste, wenn ich Emily zurück haben wollte.
„Der Tag, an dem wir uns das letzte Mal gesehen haben, war der Tag … an dem meine Schwester starb.“
Stille. Ich hörte mein eigenes Herz schlagen, das Blut in meinen Ohren rauschen. Sonst nichts. Den Atem hatte ich angehalten und Emily scheinbar auch. Sie starrte mich nur an. Die einzige Regung in ihrem Gesicht waren die leicht geweiteten Augen, die zuvor noch schmal und abschätzend ausgesehen hatten. Wenn sie sich nicht an ihrem Kinn aufgestützt hätte, wäre ihr wahrscheinlich auch die Kinnlade heruntergefallen.
„Du erinnerst dich, dass ich damals auf sie aufpassen sollte? Mika und ich waren draußen und … ich habe nicht aufgepasst. Ich habe geschrieben.“ Was ich geschrieben hatte, verriet ich an dieser Stelle nicht. Emily würde es nie lesen. Ich hatte das Gedicht, das ich damals für sie verfasst hatte, verbrannt. Zusammen mit allem anderen, was ich zu diesem Zeitpunkt schon zu Papier gebracht hatte. Mikas Tod war für mich ein Grund gewesen, mich nie wieder in meine eigene Welt zu flüchten. Über ein Jahr hatte ich es ausgehalten, dann war sie mir erschienen und hatte meiner Selbstzerfleischung ein Ende gesetzt.
„Nun“, fuhr ich fort, als Emily immer noch nichts sagte. „Meine Eltern gaben natürlich mir die Schuld. Ich war schuld. Sie nutzten meine Verzweiflung als Vorwand, um mich in eine Klinik einweisen zu lassen. Deswegen war ich plötzlich weg.“
Noch immer sah sie mich einfach nur an. In ihren glitzernden Augen konnte ich erkennen, dass ihre Gedanken rasten. Doch was sie dachte, das sah ich nicht. So fest und konzentriert ich sie auch ansah, ich hätte nicht sagen können, was in diesem Moment in ihr vorging. Und es machte mich wahnsinnig, dass diese Verbundenheit, die damals dafür gesorgt hatte, dass wir uns nur anzusehen brauchten, um einander zu verstehen, scheinbar nicht mehr da war.
Bitte , flehte ich innerlich, sag irgendetwas.
Emily
„Deine Eltern haben was getan?“, fragte ich entrüstet. Wie konnte man seinen eigenen Sohn wegen eines Unfalls in eine Klinik einweisen lassen? Ja ok, Chris hatte schon immer seine eigene Vorstellung von der Realität gehabt, aber es war schließlich ein Unfall gewesen.
„Ähm … es war doch ein Unfall, oder?“, fragte ich so behutsam wie möglich. Mit meinem Einfühlungsvermögen haperte es teilweise ein bisschen, weil die Einzige, auf die ich Rücksicht nehmen musste, Ceci war – und die war glücklich, so lange ich sie raus ließ und ihren Napf regelmäßig füllte.
Chris‘ Züge verhärteten sich ein wenig und in seinem Blick dachte ich Enttäuschung aufblitzen zu sehen. „Also, was ich meine … oh man, ich stelle mich wieder sehr ungeschickt an, oder?“ Er sah mir direkt in die Augen und plötzlich huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Was war denn nun bitte so amüsant? Ich versuchte hier einen Hexentanz auf brennenden Kohlen aufzuführen und er grinste mich so unverschämt an.
Nachdem ich aus reiner Gewohnheit die Arme vor der Brust verschränkte und eine Augenbraue hob, beeilte er sich zu sagen: „Ja, es war ein Unfall. Sie ist gestürzt.“ Nüchtern, direkt und ohne weitere Erklärungen. Mir wurde klar, dass ich heute wohl keine weiteren Details aus ihm herausbekommen würde.
„Das mit Mika tut mir sehr leid. Sie war immer so fröhlich und lebensfroh“, versuchte ich es vorsichtig. Die einzige Antwort war ein knappes Nicken. Dann herrschte Stille.
„Ich habe von dir geträumt“, gestand er mit gesenktem Blick. Ein Krümel auf meinem Küchentisch schien sein Interesse geweckt zu haben.
„Von mir geträumt?“, fragte ich lachend. Insgeheim überlegte ich mir, welche Art von Traum er wohl gemeint haben könnte. Ein feucht-fröhlicher-Traum? Ein „du bist der Traum meines Lebens“-Traum? Oder nur ein „du bist mir mal wieder in den Sinn gekommen“-Traum?
„Ja. Nein. Also ich hab dich gesehen.“, stammelte er unbeholfen.
„Wo denn? In der Buchhandlung?“
„Nein. Als ich im Bett lag.“
„In deinem Bett?“, fragte ich schrill, weil dieses Gespräch eine unerwartete Wendung nahm. „Was hätte ich denn bitte in deinem Bett machen sollen? Ich
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